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07.04.2016, 17:33 | #1 |
Forumsleitung
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Ein eigenes Leben
Es war der Todesschrei, der die Wehen auslöste.
Lisa war im achten Monat schwanger. Ihre Tasche für die Klink war gepackt. Ihre Brüder Hans und Rudolf hatten in Lisas Zimmer eine Wand mit Kindermotiven tapeziert und ein Kinderbett aufgestellt, das sie für ein paar Mark in der Nachbarschaft aufgetrieben hatten. Sie war ihnen dankbar dafür, dass sie sich dermaßen ins Zeug legten, denn obwohl der Krieg seit sechs Jahren vorbei war und sich das Land im Aufbau befand, herrschte an vielem noch Mangel. Sie war umso dankbarer, als sie nicht bereit war, ihr Geheimnis preiszugeben, wer der Erzeuger des Kindes war, obwohl Rudolf – der ältere der beiden Brüder – alle Tricks versuchte, es herauszufinden, ihr aber ebenso wenig wie Hans die Treue versagte, sondern sich schützend vor sie stellte, wenn in der Familie oder Nachbarschaft gemunkelt wurde. Der Morgen versprach, einen heißen Tag zu bringen. Lisa schaute zum Küchenfenster hinaus: Der Himmel war sattblau, ohne das kleinste Wölkchen, und sie überlegte, ob es nicht ratsam wäre, alle Fenster zu schließen und zu verdunkeln, um die Hitze draußen zu halten. Sie blickte über den Hof und zum gegenüberliegenden Gebäude, einem viergeschossigen Wohnhaus mit flachem Dach, hohen Fenstern und umgitterten Balkonen. Droben arbeitete ein junger Mann, aber sie vermochte nicht zu erkennen, was genau er tat, nur, dass er das Dach Meter für Meter abschritt, als ob er etwas prüfte oder eine Schwachstelle suchte. Während sie ihn beobachtete, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht, und ohne dass es ihr bewusst war, strich sie mit einer Hand über ihren prallen Bauch. Da sah er plötzlich zu ihr herüber und hob den Arm, wie um sie zu grüßen oder ihr zuzuwinken, und sie fühlte, wie ihr das Glück ins Blut strömte. Hans betrat die Küche, gähnend einen Morgengruß murmelnd, nahm den Roggenlaib aus dem Brotkasten, schnitt sich eine dicke Scheibe ab, bestrich sie mit Griebenschmalz und besprenkelte sie mit etwas Salz. Während er abbiss, schaute er Lisa über die Schulter. „Das ist der Siegfried, der war in meiner Klasse. Möchte wissen, was der auf dem Dach sucht. Der könnte in der Fabrik seines Alten eine steile Karriere hinlegen, ohne sich anstrengen zu müssen. Außerdem sieht er gut aus, dem laufen die Mädchen der ganzen Stadt hinterher. Aber das interessiert ihn nicht. Würde mich nicht wundern, wenn er schwul wäre.“ „Eitles Gerede,“ erwiderte Lisa. „Seinem Vater ist kein Mädchen gut genug, und er will sich von ihm keine Vorschriften machen lassen.“ Hans vergaß das Kauen: „Woher weißt du das?“ „Stell dir vor, Bruderherz, ich habe auch zwei Ohren und kann mir manches zusammenreimen. Aber jetzt sollten wir die Schotten dicht machen und die Vorhänge zuziehen, es wird bestimmt sehr heiß werden – meinst du nicht?“ Sie warf noch einen Blick hinüber zum benachbarten Haus, ehe sie nach den Fensterflügeln griff. Siegfried war näher an den Rand des Daches gegangen - da hob sich hinter ihm das Sparrenbrett, auf dem er stand und verpasste ihm einen Stoß. Er verlor die Balance und stürzte kopfüber in die Tiefe, wobei er einen markerschütternden Schrei ausstieß, der erst verstummte, als sein Körper aufschlug und alles Leben im Bruchteil einer Sekunde aus ihm wich. „Großer Gott!“ Als Rudolf in die Küche gestürmt kam, noch halb verschlafen, hielt Hans seine Schwester in den Armen. „Lauf zum Müller, der hat ein Telefon und soll einen Krankenwagen oder ein Taxi rufen. Schnell! Die Lisa steht unter Schock!“ Rudolf rannte, als ginge es um sein eigenes Leben. Das Kind, das Kind! Und die Lisa! Das Kind kam verfrüht, aber gesund und kräftig zur Welt. Lisa gab ihm den Namen Siegfried. Alle Angebote des Großvaters schlug sie aus. 07.04.2016 |
07.04.2016, 17:55 | #2 |
R.I.P.
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Liebe Ilka-Maria,
die Schilderung ist wieder typisch für Dich. Alles dran, alles drin, guter clou (wenn auch nicht unerwartet) und dazu noch einen Kern Moral. Kein Wort zu viel, keines zu wenig. (Nur eines ist falsch: Salz wird nicht geträufelt, es wird gestreut.) Mit der Dir eigenen Distanz erzählt. Gut! Freundlichen Gruß von Thing Vor allem der Anfang klingt wie "The Snapper". |
07.04.2016, 17:59 | #3 |
Forumsleitung
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07.04.2016, 18:04 | #4 |
R.I.P.
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Och Du!
Geträufelt werden nur Flüssigkeiten. |
07.04.2016, 18:06 | #5 |
Forumsleitung
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07.04.2016, 18:19 | #6 |
An für sich eine gute Geschichte, nur der Schluss ist mir zu einfach - also ich finde, es ist zu einfach (als Autor), eine Geschichte mit großem Knallbumm und Tod enden zu lassen.
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07.04.2016, 18:28 | #7 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Das hatte ich aber von Anfang an nicht im Visier. Auch fand ich nicht, dass die Geschichte mit Knallbumm endet, denn Thing hat es schon richtig bemerkt: Dass die Geschichte auf ein tragisches Ende hinausläuft, muss jeder aufmerksame Leser schon in der Mitte gemerkt haben.l Schreibe mir, welches Ende Du Dir vorstellst - oder welchen Verlauf -, das gibt dann eine neue Geschichte. Ich bin für alle Vorschläge offen. |
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Lesezeichen für Ein eigenes Leben |
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