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Alt 26.05.2015, 08:53   #1
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84


Standard Die tote Frau

Die tote Frau

Erzählung von
Hans Werner

Am Himmel hingen weißgraue Wolkenfahnen. Nur an einer milchigen Stelle konnte man eine ferne Sonne vermuten. Der Wind kam bissig von Osten und schnitt Daniel Wortlieb in Nase und Augen. Dieser hatte seine dunkelblaue Schirmmütze aus dem Schrank geholt und sie fest über den Kopf gezogen. Seine olivgrüne Pelzjacke hatte er von oben bis unten zugeknöpft und sie umhüllte ihn warm und dicht.
In der Seele war ihm kalt. Erst vor wenigen Tagen war seine Frau gestorben. Ein böser Krebs hatte in ihrem Körper gewuchert und nach einem langen mutigen Kampf war sie ihm schließlich erlegen. Nun lag sie draußen auf dem Friedhof unter einem frisch aufgeschichteten Grabhügel. Noch duftete die Erde und die Kranzblumen leuchteten in frischen Farben. Nächtlicher Regen hatte sie angefeuchtet und nun glänzten sie wie seidiger Samt.
„Meine liebe Elfriede“, sagte Daniel, „verzeih, dass ich nicht lieber zu dir gewesen bin. Ich weiß, ich habe Dich vernachlässigt. Wie viele Blumen habe ich dir nicht geschenkt! Nun blühen sie üppig auf deinem Grab. Die Stunden ohne dich schmecken bitter wie Essig.“ Daniel wischte sich einige Tränen aus verrunzelten Augenwinkeln. Sein Taschentuch war etwas bräunlich, weil er leidenschaftlich dem Schnupfen frönte. „Immer habe ich gemeint, ich sei im Leben zu kurz gekommen, und konnte nicht ermessen, wie unendlich groß mein Reichtum war, den ich in dir besaß. Nun bin ich allein und fühle mich als wahrhaft ärmster Mensch auf dieser Welt. Bitte, Elfriede, hilf mir. Hilf mir über diese Gedanken hinweg. Verlass mich nicht. Bleibe bei mir.“
So ähnlich sprach Daniel zu seiner frisch beerdigten Frau und der bissige Wind konnte ihn nicht anfechten. Manchmal flog ein großer bunter Vogel über die Friedhofsumzäunung, vielleicht ein Kernbeißer, der dem Eichhörnchen irgendwelche versteckten Haselnüsse abjagte. Plötzlich flog ein prächtiger Eichelhäher nur einige Meter über ihn hinweg. Von diesen beiden Vögeln fühlte sich Daniel getroffen. Er selbst hatte er sie nie gekannt, bis ihn Elfriede in Garten und Feldern auf sie hingewiesen und ihm deren Namen gesagt hatte. Gerade diese beiden Vögel waren es nun, die über ihn hinwegfliegen mussten. Deutlich fühlte er, dass es diese Vögel für ihn überhaupt nicht gegeben hätte, hätte nicht ein liebender Mund sie ihm genannt.
„Ja, das bist du, Elfriede. Jene Vögel mahnen mich an dich. Ob du wohl auf ebenso leichten Schwingen durch geheime Sphären fliegst wie diese Vögel, deine Lieblinge? Immer sollen sie mich künftig an dich erinnern.“
Danach wandte er sich zum Ausgang des Friedhofs, öffnete die knarrende Eisenpforte und wischte sich den feuchten Rost von der Hand. In übermäßigem Tempo fuhr auf der Straße ein Auto an ihm vorbei. Wie er ihm nachsah, erkannte er im Fahrer seinen früheren Schüler Florian, der ihm immer großen Kummer bereitet hatte. Doch da kamen ihm plötzlich die Worte wieder in Sinn, mit denen dieser schlitzohrige Kerl ihn in der Schülerzeitschrift spöttisch beschrieben hatte. „Wortlieb ist ein Stehaufmännchen, eine wahre Gummipuppe. Machen ihn seine Rabauken zur Schnecke, dann steht er zur kommenden Stunde augenblicklich wieder auf.“ Da überflutete Daniel plötzlich eine warme Welle von Dankbarkeit. Er dankte diesem Florian, aber noch mehr dankte er seiner Elfriede, von der er fest glaubte, dass sie ihm die Erinnerung an Florian eingegeben hatte.
Zu Hause öffnete er seinen Computer. In dem Literaturforum, in dem er als schreibender Stammgast verkehrte, suchte er gewohnheitsmäßig Texte, Gedichte und Erzählungen, die er beim Lesen auf sich wirken ließ. Unbewusst hoffte er, die Verstorbene könnte ihm zufällig Trostworte zuführen. Eigentlich lachte er über diesen sentimentalen Einfall. Aber er schlug diese ironische Stimme in den Wind. Er wollte den zufälligen Eingebungen nicht im Wege stehen. Ihm war, als sei sein Inneres wie eine semipermeable Wand – plötzlich fiel ihm der Ausdruck aus dem früheren Biologieunterricht ein –, welche übersinnliche Botschaften durchlassen könnte. Und wie er diesem Gedanken in voller Kraft nachhing, fiel sein Blick plötzlich auf einen Titel „Worte aus dem Grab“.
Wie vom Blitz getroffen, starrte er diesen Titel an. Fast scheute er sich, den Link zu öffnen, seine Finger zitterten, aber in ihrem Zittern hatten sie unabsichtlich die Maustaste gedrückt. Und nun flimmerten ihm folgende Zeilen vor den Augen.

Da ich tot bin
bin ich bei dir
so eng
als ob ich lebte
mein Haus
ist deine Seele
wenn du fühlst
bin ich es, die fühlt
wenn du weinst
bin ich es, die weint
wenn du lachst,
lache ich in dir
hör in dich hinein
und du hörst
meine Stimme

Er las und flüsterte die Worte in sich hinein, er erbebte vor Erregung und Ergriffenheit. So nah war ihm Elfriede, seine verstorbene Frau, die er über alles geliebt hatte, ohne es zu wissen, ohne es zu ahnen! Dann ging er in sein Zimmer und entkleidete sich. Er richtete sich zur Nachtruhe. Seit vielen Jahren schon hatten sie getrennte Zimmer zum Schlafen. Bitterer Groll hatte sich deshalb in ihm angestaut. Doch nun war aller Groll verflogen. Er hüllte sich in die Decken und fühlte an sich die junge Elfriede, wie sie in den ersten Jahren ihrer jungen Ehe zu ihm schlüpfte und lieb zu ihm war. Und er richtete zu Gott ein Gebet, scheinbar so widersinnig, dass jeder Geistliche entrüstet gewesen wäre, der es gehört hätte. „Gott“, so sprach er in sich hinein, „ich danke dir innig dafür, dass ich nun eine tote Frau habe. Ich danke Dir, dass ich sie jetzt mehr habe als zu jeder früheren Zeit. Gib ihr ein gutes Plätzchen, dort bei Dir, in jenem Reich, das kein Auge gesehen und von dem kein Ohr gehört hat. Und leite und führe meine Seele immer zu ihr hin.“
Hans Werner ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.07.2015, 06:49   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 61
Beiträge: 6.725


Traurig-schön.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.07.2015, 15:29   #3
weiblich ANOUK
 
Benutzerbild von ANOUK
 
Dabei seit: 10/2014
Ort: Kreis Kleve am Niederrhein
Beiträge: 462


Ich habe deine Geschichte gerne gelesen, lieber Hans-Werner. Bitter-süß oder traurig-schön, wie Silbermöwe sagt. Und ich persönlich fühle mich ein wenig "gemahnt". Ich möchte nie im Leben sagen "müssen": Danke, lieber Gott, dass ich einen toten Mann habe...
Manchmal frage ich mich für ein paar Sekunden, ob etwas zu kitschig wäre, um es zu sagen. Oder ob es zu übertrieben wäre, etwas zu tun. Nein, ist es wohl nicht...
lG,
Anouk
ANOUK ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.07.2015, 18:15   #4
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84


Liebe Silbermöwe und Anouk,

für Eure beiden lieben Antworten danke ich sehr. Es erfüllt mich mit tiefer Regung, wenn ich sehe, dass mein Text bei Lesern Gefühle auslöst. Und dass diese Empfindungen so stark sind, dass sie Euch zu einer Antwort anregen.

Liebe Anouk, wie geht man mit dem Tod um? Ich selbst bin in der glücklichen Lage, dass meine Frau lebt und ich mit ihr eine harmonische Ehe führe. Aber der Gedanke, dass dies nicht selbstverständlich ist, kann sich produktiv auf die gegenwärtigen aktiven Lebensgefühle auswirken. Und der Tod ist ja nicht nur physisch vorstellbar. Du weißt, wie ich es meine.

Mit herzlichem Gruß

Hans
Hans Werner ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.07.2015, 21:41   #5
männlich Jeronimo
gesperrt
 
Dabei seit: 10/2011
Alter: 70
Beiträge: 4.237


Hallo Hans Werner,

ein wenig finde ich es kitschig, was aber nicht der Fall wäre, wenn es authentisch wäre. So ist es eine zärtliche Erzählung eines liebenden Menschen, eines gläubigen Menschen, der seine Traurigkeit in eine Dankbarkeit wandeln kann.
Ich habe sie auch gerne gelesen.

Jeronimo
Jeronimo ist offline   Mit Zitat antworten
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