der einkaufswagen bei Poetry.de

ThePOEMist · 18.01.2013, 20:55

der einkaufswagen

das erste mal
sah ich sie dort letzten sommer.
ich komme oft vorbei
und fast immer ist sie auch da
— in der kleinen grünanlage
mitten in einer großen kreuzung.
es gibt dort nicht viel
— ein paar bänke, eine kleine grünfläche,
einige sträucher und eben die überdachte
bushaltestelle an der sie fast
tag und nacht sitzt.

sie hat immer denn gleichen dicken
abgetragenen mantel an,
egal ob im sommer oder im winter.
sitzt da an der haltestelle
einigermaßen vor regen und wind geschützt
neben dem alten einkaufswagen
mit all ihren habseligkeiten
— decken, kissen, einkaufstüten.

ich glaube sie schläft nachts unter den büschen.
in besonders kalten oder nassen nächten
hab ich sie auch schon
an der haltestelle gesehen.

jetzt im winter
wollte ich sie schon oft ansprechen
— wegen der kälte.
ich weiß aber gar nicht ob sie mich versteht,
hab sie noch nie mit jemandem gesehn
— und sie sieht auch aus
als wär sie fremd.

heute war sie jedenfalls das erste mal
nicht da.
hatte gleich den verdacht
als ich sie nicht gesehen habe.
ihr einkaufswagen lag umgefallen
und leer unter den büschen.

ich habe gleich alle meine tüten
und den alten schlafsack
in den einkaufswagen gepackt
und bin zur haltestelle gegangen
— man muss ja die gelegenheit
beim schopf packen.

seitdem sitze ich da,
einigermaßen vor dem schnee geschützt,
nehme ab und zu
einen schluck aus der flasche
und kann mein
glück kaum
fassen.

Ringelroth · 02.02.2013, 13:18

Spitze! Beide Daumen hoch!

sachi · 02.02.2013, 15:59

Find ich super! Die überraschende Wende am Ende bringt einem das Elend viel intensiver zu Bewusstsein als wenn das Gedicht aus einer bloßen "Mitleids-Perspektive" geschrieben wäre.
LG sachi

Thing · 02.02.2013, 19:09

Die eine geht, der andre nimmt ihren Platz ein -
und das in der Gruppe sogenannter Außgestoßener.
Ebenso deprimierend wie wahrscheinlich alltäglich. (Der einen Wehe, des andern Wohl).
Zwei Schicksale - e i n Schauplatz.

Die Form ist nichts für mich, aber das Thema ist hochinteressant.

LG
Thing

18.01.2013, 20:55	#1
ThePOEMist Dabei seit: 01/2013 Alter: 50 Beiträge: 107 Meine Gedichte	der einkaufswagen der einkaufswagen das erste mal sah ich sie dort letzten sommer. ich komme oft vorbei und fast immer ist sie auch da — in der kleinen grünanlage mitten in einer großen kreuzung. es gibt dort nicht viel — ein paar bänke, eine kleine grünfläche, einige sträucher und eben die überdachte bushaltestelle an der sie fast tag und nacht sitzt. sie hat immer denn gleichen dicken abgetragenen mantel an, egal ob im sommer oder im winter. sitzt da an der haltestelle einigermaßen vor regen und wind geschützt neben dem alten einkaufswagen mit all ihren habseligkeiten — decken, kissen, einkaufstüten. ich glaube sie schläft nachts unter den büschen. in besonders kalten oder nassen nächten hab ich sie auch schon an der haltestelle gesehen. jetzt im winter wollte ich sie schon oft ansprechen — wegen der kälte. ich weiß aber gar nicht ob sie mich versteht, hab sie noch nie mit jemandem gesehn — und sie sieht auch aus als wär sie fremd. heute war sie jedenfalls das erste mal nicht da. hatte gleich den verdacht als ich sie nicht gesehen habe. ihr einkaufswagen lag umgefallen und leer unter den büschen. ich habe gleich alle meine tüten und den alten schlafsack in den einkaufswagen gepackt und bin zur haltestelle gegangen — man muss ja die gelegenheit beim schopf packen. seitdem sitze ich da, einigermaßen vor dem schnee geschützt, nehme ab und zu einen schluck aus der flasche und kann mein glück kaum fassen.

02.02.2013, 13:18	#2
Ringelroth Dabei seit: 05/2010 Ort: Völklingen Alter: 74 Beiträge: 414 Meine Gedichte Meine Favoriten	Spitze! Beide Daumen hoch!

02.02.2013, 15:59	#3
sachi Dabei seit: 02/2013 Alter: 38 Beiträge: 18 Meine Gedichte	Find ich super! Die überraschende Wende am Ende bringt einem das Elend viel intensiver zu Bewusstsein als wenn das Gedicht aus einer bloßen "Mitleids-Perspektive" geschrieben wäre. LG sachi

02.02.2013, 19:09	#4
Thing R.I.P. Dabei seit: 05/2010 Beiträge: 34.998 Meine Gedichte Meine Favoriten	Die eine geht, der andre nimmt ihren Platz ein - und das in der Gruppe sogenannter Außgestoßener. Ebenso deprimierend wie wahrscheinlich alltäglich. (Der einen Wehe, des andern Wohl). Zwei Schicksale - e i n Schauplatz. Die Form ist nichts für mich, aber das Thema ist hochinteressant. LG Thing