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Alt 24.08.2011, 11:56   #1
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Standard Sinn-Erlebnis Teil 3

St.Marco

Tausend Blicke unter den Augen des Löwen, dem Geflügelten, der auf einer Säule thront, königlicher Wächter am berühmten Markusplatz.
Tausend offene Münder mit dem Finger am Auslöser für die Sekunde. Vergängliche Momente gebannt ins Fotoalbum:
Einmal in Venedig gewesen sein.
In der Stadt der Palazzi, der Bögen und Mosaiken, denn sie versinkt jede Sekunde, sie ertrinkt langsam, wenn Touristen-Hochhäuser kommen, wenn Zehn-Decker wie an einer Perlenschnur, schwimmende Festungen für 500 Euro pro Passagier, in den engen Hafen der Lagune ziehen.
Die Stadt der Träume geht unter.
Aber wir wollen noch einmal hier gewesen sein, nach so vielen Jahren Arbeit, unser Gespartes ausgeben, fürstlich vergessen, dass all das vergeht, dass wir all dies vielleicht nicht wiedersehen, wir feiern den Lebensabend.- Ein Schiff nach dem anderen zieht am Platz vorbei.
Tausende stehen gebannt unter den Augen des Löwen, starren hinauf zu den Riesen, zu den Wohlstands-Ungetümen. Auf jeder Schiffs-Reling stehen spiegelgleich Tausende und starren hinunter:
Einmal gewesen sein in der Stadt der Gondeln,
am Ort absurder Romantik. Hier in dem Gewühle, am Juwel des Palastes, in den Gassen unter den Arkaden, begegnen wir uns nicht, aber wir ersticken schier unter der brennenden Sonne, unter dem Schweiß der Vielen und bergen uns wenigstens für eine Sekunde in ihrem untergehenden Schatten, in unseren vergehenden Träumen. Wir flüchten uns in teure Restaurants, werden schnell abgefüttert, setzen dann unsere Reise fort, werden wieder fast zerdrückt im Stress der Massen, auf Booten und auf Plätzen.- Sieht es denn keiner?
Sieht keiner all diese Augen?

Während wir im Meer der Urlauber durch die Touristen-Meile treiben, sind wir innerlich leer vom endlosen Suchen nach dem Vergnügen, voller Sehnsucht nach dem Vergangenen, nach irgendeinem Glück. Jeder träumt seinen Traum vom fernen byzantinischen Zauber, in einem entzauberten Leben.
Aber der kleine Junge in mir will da irgendwie hoch kommen.
Er will über die Massen hinaus zum Löwen klettern. Er möchte da oben auf der Säule Platz nehmen, auf seinem Rücken, sich in seinem goldgelben, strohig-buschigen Fell festkrallen, sich an den langen, von der Sonne warmen Nacken-Haaren festhalten.
Und wenn St. Marco dann brüllt und seine riesigen Flügel ausbreitet, wenn er mit einem Ruck abhebt und über die Lagune kreist, wenn er ein letztes Mal seinen Schatten auf den Platz voll Staunender wirft, will er mit ihm fliegen, fliegen tausende Kilometer weit über das Meer nach Westen, in das Land der untergehenden Sonne, nach Kanada.
Und auf einmal bin ich wieder dort, wie vor Jahren:
Ich gehe mit meinem Hund an der Leine durch das Gebiet der Nachbarschaft in Mc Leod Lake. Nicht weit ist das Reservat der „Tschekeney“. Ich wohne alleine in einer Cabin mit einem kleinen Ofen. An meiner Tür lehnt ein Gewehr und ich habe stets ein Pfeffer-Spray dabei.
Wenn ich mit dem Hund spazieren gehe, sind da keine echten Straßen, nur Schotterpiste und Wald, kanadische Kilometer bis zum nächsten Haus aus Holz. Irgendwo kreist dann ein ferner Adler. Ich höre seinen Schrei in der Luft. Unter meinen Wanderschuhen knistern die kleinen, staubigen, heißen Steine. Es riecht nach Kiefernwäldern und nach 1000 Metern nach totem Tier. Links und rechts ist nach einer halben Stunde ab und zu ein Knistern, ein weites Knacken, ein nächtliches Röhren im Wind, selten am Tage. Wenn aber mein Hund auf einmal leicht zieht, wenn er plötzlich zittert und angespannt stehen bleibt, wenn er die Ohren spitzt und Witterung aufnimmt, dann ist da niemand, nur Stille, einsame Wildnis, er und ich,- vielleicht irgendwo ein Bär.
Wenn es ein Brauner wäre, würde „Blacky“ bestimmt knurren. Dann träte jetzt der Grizzly aus dem Busch am Wegesrand. Er würde auf allen Vieren nach mir schnuppern, brummen, sich aufrichten und wir schauten uns über zehn Meter in die Augen:

„Bleib ruhig, ich tu Dir nichts. Mein Herz schlägt wie wild, aber ich renne nicht davon. Ich spreche mit Dir, so als wärest du mein alter Freund, mein Urahn, mein Großvater, der über meine Lebenswege wacht, der mir hilft den Plan zu erfüllen. Bleib ruhig. Ich lasse Dich. Ich entferne mich aus Deinem Königreich, und gehe langsam zurück zu mir.“
Und dieser Moment ist dann eine Ewigkeit.
Jetzt aber stehe ich unter Tausenden und sehe den Geflügelten, den Löwen auf der Säule, von dem man im Lärm nicht hört, dass er nach seiner Heimat ruft.

St. Marco , Venedig,
Stadt der Träume.
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