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29.12.2021, 20:23 | #1 |
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Altwerden
Als der Schauspieler und ehemaliger Rennfahrer Joachim Fuchsberger seine Memoiren geschrieben hatte, gab er seinem Buch den Titel: „Altwerden ist nichts für Feiglinge.“
Daran musste ich heute nach meinem Besuch bei meinen Paten denken. Tante Ella ist neunundachtzig Jahre alt, Onkel Harry wird im Mai dreiundneunzig. Die Unterhaltung mit ihnen ist anstrengend geworden, der geistige Verfall nicht mehr zu ignorieren. Vielleicht tragen auch die vielen Medikamente, die sie täglich einnehmen müssen, zu ihrer Verwirrtheit bei. Tante Ella hing zusammengesunken auf der Couch, den Kopf an die Rückwand gelehnt, und starrte in das Fernsehgerät, das aus voller Lautstärke ins Wohnzimmer plärrte. Wenn sie etwas sagte, war ihre Stimme so leise, dass ich die Ohren spitzen musste. Aber selbst, wenn ihre Worte laut und vernehmlich gewesen wären, hätte ich mit ihnen nichts anfangen können, denn sie schienen nicht zu ihrem Leben zu passen. Einst nahestehende Menschen waren aus ihrer Erinnerung gefallen, manche Verstorbene indessen noch vorhanden, und Begebenheiten aus der nahen Vergangenheit wurden in weit zurückliegende Jahrzehnte datiert. Sie fror wie ein Schneider, obwohl das Zimmer gut geheizt war. Aber wer hätte darüber verwundert sein können, hatte sie doch kein Gramm Fett auf den Knochen. Bei Onkel Harry sah es nicht anders aus, bei ein Meter achtzig wog er nur noch knapp sechzig Kilo. Im Alter scheint das Essen zu einem Kraftakt zu werden, der schnell erschöpft, und so nimmt man nur noch einen Bruchteil dessen zu sich, was früher eine Normalration gewesen war. Es ist grotesk: Ein Leben lang ringen Menschen darum, ihr Traumgewicht zu erreichen, und ausgerechnet dann, wenn sie sich kaum noch auf den Beinen halten können, stellt es sich von selber ein! Tante Ellas Zustand erschreckte mich, denn ich hatte sie für zäher gehalten als Onkel Harry. Was ich sah, war ein klägliches Bündel Mensch, dessen körperlicher Verfall in Schallgeschwindigkeit voranzueilen schien. Gewiss, sie hatte seit Jahren Schmerzen, weil ihre Knochen den Dienst versagten, aber organisch war sie gesund geblieben. Im Gegensatz zu Onkel Harry, bei dem schon in jungen Jahren Hodenkrebs diagnostiziert worden war, dem man den Schädel aufgesägt hatte, um einen Gehirntumor zu entfernen, was nur teilweise gelang, und der nach einem Herzversagen wiederbelebt wurde, was ihm einen zusätzlichen Herzschrittmacher eintrug. Ausgerechnet er, der schon mehrfach wegen seiner Koordinationsstörungen umgefallen war und sich dabei erst das eine, dann das andere Handgelenk gebrochen hatte, war es, der den Haushalt organisierte und sich um Tante Ella kümmerte, ihr beim Ankleiden half und sie stützte, wenn sie zur Toilette gehen musste. Während ich neben ihr saß und mit ihr sprach, ließ sie die Augen über die Schrankwand ihr gegenüber schweifen. „Wenn du etwas davon brauchen kannst, nimm es mit.“ Hinter Glas und in offenen Fächern stand ihr ganzes Leben: Kristallgläser, Nippes, Sammlerstücke aus Porzellan, Zinnteller, Fotos in Silberrahmen, blauschimmernde Mineralien, Vasen mit künstlichen Blumen darin und allerlei sonstiger Krimskrams. Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe schon zwei Haushalte.“ Dabei dachte ich an das Sammelsurium, das ich von meiner Mutter geerbt hatte, das niemand haben wollte, niemand brauchte, mir aber immer noch zu schade ist, um auf den Müll geworfen zu werden. Eine Belastung, die ich gerade noch aushalten kann. Nachdenklich fuhr ich nach Hause. So also würde mein Leben in ungefähr fünfundzwanzig Jahren aussehen, falls ich nicht vorher das Zeitliche gesegnet hätte. Und da wurde mir klar, dass Handlung angesagt war: Ich musste meinen Haushalt abspecken, rausschmeißen, was ich seit Jahren nicht mehr in den Händen gehalten hatte. Plötzlich erschienen mir leere Räume wie ein erstrebenswertes Ideal. Man stelle sich vor, die Möbel müssten abgestaubt werden, aber es wären keine mehr da … Und schließlich sind fast siebzig Jahre Wohnungs- und Kleiderpflege genug. Ich habe sie ebenso satt wie die unendlich gleichen Krimis und Ratespiele im Fernsehen, die immer gleichen Werbesprüche und die mitgealterten Produkte namens Maggi, Jacobs und Asbach. Oder wie die Zeitungsnachrichten, die den Tod meiner Helden und Heldinnen aus der Jugendzeit vermelden: Tarzan-Weissmüller, Spartacus-Douglas, Scarlett-Vivian, Diamond-Marylin, Winnetou-Brice, Roman-Holiday-Audrey, Bern-Wunder Rahn, Mähnenkönig Netzer, Bomber Müller … Aus und vorbei. Ich will davon nichts mehr hören und sehen! Und doch muss ich hören, sehen und wissen, weil das Leben täglich únd gnadenlos seinen Zins einfordert. Dem zu entgegen gäbe es nur eine Alternative. Geschickt angestellt die Sache vom Bruchteil einer Sekunde, für den Zugführer ein lebenslanges Trauma. Joachim Fuchsberger hatte recht: Altwerden ist nichts für Feiglinge. 29.12.2021 |
29.12.2021, 22:21 | #2 |
Gut und drastisch geschildert diese (vermutlich wahre) Geschichte.
Das Fuchsberger'sche Zitat könnte man übrigens konträr bzw. doppeldeutig interpretieren.... |
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11.01.2022, 18:20 | #3 |
Dabei seit: 07/2006
Ort: Mauritius, stella clavisque maris indici
Beiträge: 4.889
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Jetzt bin ich aber verwirrt. Günter Netzer lebt doch noch. Warum erklärst du den für tot? Oder hab ich was verpasst?
Corazon |
11.01.2022, 19:11 | #4 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Muss ich im Skript natürlich korrigeren. |
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