|
|
Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte. |
|
Themen-Optionen | Thema durchsuchen |
29.02.2020, 13:25 | #1 |
Die Unterrichtsstunde
Es muss in der achten Klasse gewesen sein. Eine Unterrichtsstunde Deutsch - mein Lieblingsfach - mit unserem neuen Referendar stand bevor.
„Ich finde den Typ so langweilig", seufzte meine Sitznachbarin Ingrid. „Hoffentlich geht die Stunde schnell um." Ich fand den Typ vor allem gutaussehend: blond, groß, von zwar kräftiger, aber nicht übergewichtiger Statur. Allerdings mochte ich seine Lehrmethoden nicht: Meistens brachte er Folien mit, deren Beschriftungen er mit Hilfe eines Projektors an die Wand warf. Das fand ich eher ermüdend als interessant. Wir wurden überrascht, er hatte keine Folien dabei, nur ein paar Bücher, die er achtlos auf das Lehrerpult legte. „Ich wollte heute mit euch über etwas sprechen", begann er und es folgte - für mich enttäuschend - etwas, was mit dem Unterrichtsfach meiner Meinung nach nicht viel zu tun hatte. Es ging um das Verhältnis Deutschlands zu einem anderen Land. Da ich nicht mehr hundertprozentig weiß, um welches Land es ging, nenne ich das andere Land "X-Land." Unser Referandar begann damit, X-Land zu loben. Was habe X-Land nicht alles für uns getan! Wir verdankten ihm Waren, die wir ohne seine Lieferungen nie bekommen hätten. Auch politisch stünde X-Land immer hinter uns. Undsoweiter undsofort. Am Ende der Litanei fragte er, wer dafür sei, dass wir das Verhältnis zu X-Land aufrecht erhalten sollten, so wie es sei. Alle zeigten auf. Wer war dagegen? Keiner. Enthaltungen? Gab es nicht. „So", legte er nun mit gerunzelter Stirn los, „das glaubt ihr also wirklich. Ich sage euch mal was: X-Land hat gar nichts für uns getan. Andere Länder hätten uns die gleichen Waren geliefert, vielleicht sogar günstiger. Und politisch steht X-Land ganz und gar nicht hinter uns. Partnerschaft, wenn ich das schon höre! Die sind doch nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht." In dieser Richtung ging es weiter. Ich schaute den Referendar vollkommen verdutzt an und konnte mit den beiden gegensätzlichen Reden nichts anfangen. Was meinte er denn nun wirklich? Neben mir kicherte Ingrid: „Der spinnt." Am Ende der zweiten Rede ließ der Referendar wieder abstimmen. Wer war nun dafür, dass wir nie wieder etwas mit X-Land zu tun haben sollten? Alle zeigten auf, bis auf Ingrid und mich. Einige murmelten Zustimmung, nein, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Wenn das ja alles so ist..... Ich zögerte, ob ich jetzt dagegen stimmen sollte. Durfte man das wagen? Während seiner zweiten Rede war mir der Referendar fast wie ein Schauspieler vorgekommen. Aber alle anderen hatte er überzeugt. Bis auf Ingrid, die ihn nicht leiden konnte. Ich schaute Ingrid an. „Wir enthalten uns", flüsterte sie und brav streckte ich meinen Finger in die Luft. Wir waren die einzigen, die sich enthielten. Gegenstimmen gab es nicht. Aber eine Überraschung, die ich nie vergessen werde. „Was habe ich jetzt gemacht?" fragte der Referendar. Alle schauten ihn an, keiner wusste eine Antwort. „Ich habe euch manipuliert", erklärte er. „Vorher wart ihr ganz anderer Meinung. Ich wollte euch zeigen, wie so etwas passieren kann." Nie habe ich soviel gelernt wie in dieser Unterrichtsstunde. Die Lehrmethode war unkonventionell, so eine Stunde habe ich nie wieder erlebt. Aber ich war unglaublich beeindruckt davon, was uns hier gezeigt worden war. Für mein weiteres Leben habe ich etwas sehr Wichtiges aus dieser Unterrichtsstunde mitgenommen: Pass auf, wenn man dich manipulieren will. Die Wahrscheinlichkeit, dass der damalige Referendar (es war Anfang der 80er Jahre) diese Zeilen liest, ist wohl eher gering. Trotzdem möchte ich auf diesem Wege sagen: Danke, Herr Referendar, für das, was Sie uns in dieser Stunde beigebracht haben. Und ich ärgere mich noch heute, dass ich nicht dagegen gestimmt habe. Im Prinzip ließ ich mich auch von meiner Sitznachbarin manipulieren..... Geändert von DieSilbermöwe (29.02.2020 um 14:34 Uhr) |
|
29.02.2020, 20:43 | #2 |
Gast
|
Hallo Silbermöwe,
ja es gibt auch in der Schule Momente in denen man etwas tief versteht. Und so wenige vielleicht gar nicht, ist doch vieles von dem was wir für gewiss und unumstößlich halten letztlich Schulwissen. Aber ein tolles Gefühl, etwas wirklich zu durchschauen und toll inszeniert von dem Lehrer. Lustiger, besser beklemmender Weise sind heutzutage diejenigen die am meisten gegen Manipulation krakeelen ("...Lügenpresse..") oft am stärksten manipuliert. Und meist im besonderen Maße Opfer der "Filterblase". Einem Raum in dem man manipuliert wird sich geistig immer mehr einzuengen. Eine perfide Selbstmanipulation... LG Andri |
29.02.2020, 21:35 | #3 |
Forumsleitung
|
Manipulation fängt mit der Sprache an. "Bildungsfern" und "Migrationshintergrund" hören sich milder an als "ungebildet" und "ausländischer Herkunft". Bei gegnerischen Staaten ist es umgekehrt, da kann man nicht hart genug vorgehen, und deshalb haben sie keine "Regierung", sondern ein "Regime". Solche Beispiele durchziehen mittlerweile unseren gesamten Sprachgebrauch - wohlgemerkt: in Deutschland. In Österreich scheint das nicht der Fall zu sein, dort stehen die von uns verfolgten und "ausgemerzten" (Vorsicht: Nazi-Jargon!) Wörter offensichtlich unter Artenschutz.
|
01.03.2020, 13:08 | #4 |
Hallo Andri,
einige Jahre später hatte ich noch ein anderes schulisches Erlebnis: Eine Lehrerin erzählte, dass sie sich nie nur von einer Seite, sondern immer von allen Seiten informiere. Das halte ich seitdem genau so; du kannst z. B. Unterschiede in der Berichterstattung schon bemerken, wenn du dir die Nachrichten auf verschiedenen Sendern anschaust. Hallo Ilka, in Österreich gibt es Wörter, die wir hier auch gar nicht kennen (beispielsweise "jeiern" oder "Lokalaugenschein" - letzteres habe ich mal in einem Buch gefunden, das über Aufklärung von Verbrechen in Österreich berichtete. Anscheinend ist das ein Treffen verschiedener Kriminaler am Tatort. Wenn ich es richtig verstanden habe.) Die Wörter, die du angesprochen hast, spielten damals, als ich in der Schule war, noch keine Rolle.... Ich weiß nicht, ob Sprache allein manipulieren kann. Woanders las ich vor kurzem: „Sprache formt Denken." Wahrscheinlich im Prinzip dasselbe..... Danke für eure Kommentare! LG DieSilbermöwe |
|
01.03.2020, 13:28 | #5 | |
Forumsleitung
|
Zitat:
Wenn ich mir ein umfassendes Bild von einer Nachricht machen will, vergleiche ich mit der Auslandspresse. |
|
02.03.2020, 11:07 | #6 |
Oft hilft auch, ohne langwierige Recherchen, über die alte römische Frage "cui bono" (wem nützt es) nachzudenken.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin. |
|
06.03.2020, 08:06 | #7 |
Liebe AlteLyrikerin,
darüber musste ich lange nachdenken, kam jedoch zu keinem richtigen Ergebnis. Ich denke, man kann nicht immer immer durchschauen, wem (persönlich) was etwas nützt.... LG DieSilbermöwe |
|
Lesezeichen für Die Unterrichtsstunde |
|
Ähnliche Themen | ||||
Thema | Autor | Forum | Antworten | Letzter Beitrag |
Gedanken einer Unterrichtsstunde | cute_fighter | Geschichten, Märchen und Legenden | 4 | 28.08.2006 19:59 |