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Alt 18.09.2005, 18:59   #1
tagedieb
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 520


Standard Weite Reise

Weite Reise

Da ist zum Beispiel Benny, der aussieht wie eine Elvis-Presley-Attrappe, breit, Schmollmund, Kotletten und schmalzige schwarze Haare unter dem Basecape. Der zieht sich tatsächlich eine Locke in die Stirn und wagt es, sich so an die Kasse zu stellen. Das ist wahrscheinlich ein Zeichen für eine beneidenswerte Dickfälligkeit. Vielleicht ist es auch nur ein Indiz für die fehlende Fähigkeit zur Selbstreflexion. Egal, weil: Benny ist fix und das ist gefragt. Denn obwohl er schwergewichtig ist, gehört er zu denen, die das Tablett eines Kunden am schnellsten mit der Bestellung vollkriegen. Ich brauche immer noch zu lange, obwohl ich schon fast zehn Monate dabei bin. Die Menschenmassen machen mich nervös. Man muss sich nur eine bis zur Eingangstür reichende Schlange von hungrigen „Fresstempelnomaden“ vorstellen. Allesamt schauen die so andächtig nach oben auf die Auswahltafeln, als würde ihnen da die Seeligkeit verheißen. Da werde ich furchtbar hektisch, was letztlich nichts bringt. Und Moni, die Chefin, nötigt mich auch noch zur Eile. „Der Gast wartet!“, faucht sie im Vorbeigehen. Der Gast grinst, wenn er das hört, für gewöhnlich belustigt beiseite. Benny hat so was nicht zu befürchten. Denn wie gesagt. Benny ist schnell genug – und das nicht nur hier. In den Pausen erzählt Benny von Lan-Partys, auf denen er wegen seiner flinken Finger berüchtigt ist. Er erzählt von blutigen Schlachten, von purer Action und von Kameradschaft. Da kann ich nicht mithalten. Ich spiele auf dem PC, wenn überhaupt, dann nur die stupiden Kartenspiele. Aber wenn du Benny so was sagst, schnauft er nur verächtlich. Er stellt sich im hinteren Teil der Küche in Egoshooter-Pose auf. Breitbeinig. In den leeren Händen hält er eine 15 Kilogramm schwere Schnellfeuerwaffe und die lässt er - aus rein missionarischen Gründen, eben weil er dich von seiner Art der sportlichen Betätigung überzeugen will - einmal quer durch den Raum bis in den Gästebereich rattern. Erschreckend wie plastisch das wird, wenn Benny dabei seine Eindrücke schildert. Kugeln prallen von Metallblechen ab. Die ersten Mitarbeiter werden von Querschlägern getroffen und sacken zusammen. Fensterscheiben bersten. Einschlaglöcher in einer Linie über Wände und Öfen und Fritösen. Alle Kunden, die noch nicht weggerannt sind, werden brutal niedergerissen. Schreie. Brennendes Öl. Blut. Und dann Moni. Hinter der Spiegelglasscheibe sitzend entgeht ihr nichts. Sie schleift Benny an den Ohren(!) ins Büro. Eigentlich sieht sie ziemlich süß aus, wenn sie wütend ist. Die Show jedenfalls hat Benny fast den Job gekostet.
Weniger Glück hatte da Bennys Lan-Kumpel. Moni hat ihn schon nach zwei Wochen rausgekantet. Sven war sowieso faul, selten dämlich und dazu noch furchtbar hässlich. Er und Benny müssen irgendwann so etwas wie Blutsbrüderschaft geschlossen haben. Das ging in einer Tour nur: „Tach, Bruder ... wie geht’s Bruder? ... Tschö, Bruder“. Dieser Sven hätte ganze Romane mit seinem schwachsinnigem Gefasel füllen können. Die „Abenteuer“, die er zum Besten gab, wollte er in seinen verschiedenen Jobs erlebt haben. Im Kaufhaus zum Beispiel, da habe er im Lager, immer wenn er allein war und gestresst vom Filialleiter, volle Cola-Flaschen zerschmissen – kistenweise - und einmal sei er von einem vier Meter hohen Regal auf eine Palette gesprungen, die mit Abwaschschwämmen beladen war. Die Landung auf den Schwämmen war wie er vermutet hatte angenehm weich. Nur konnte er sich auf dem schwankenden Untergrund nicht so recht halten und stürzte deshalb so geschickt zu Boden, dass er sich dabei die Nase brach. „Der fiebert wieder.“, kommentierte die dicke Rosi solche Storys. Die Nase eines Boxers hat Sven tatsächlich. Aber was auch immer der Grund dafür war. Dieser Nasenbruch war der ohnehin verschrobenen Optik seines Gesichtes nicht zuträglich gewesen.
Ich hab mal versucht nach Svens Vorbild eine Cola-Flasche aus Plaste kaputt zu werfen. Das klappte erst beim achten Versuch. Wahrscheinlich muss sich erst genügend Druck aufbauen. Aber wenn der da ist, explodiert das Ding mit einer ungeheuren Wucht. Das könnte ein Geheimtipp für Terroristen sein.
Rausgeflogen ist Sven, weil er sich nicht merken konnte, wie die verschiedenen Burger belegt werden. Den Gästen ist das nur selten aufgefallen, weil ohnehin alles gleich schmeckt. Kaum einer hat sich über fehlende Gurken oder fehlenden Käse oder so was beschwert. Moni jedoch fand, dass Ketchup nichts auf Fischburgern und Sven nichts in ihrem Einflussbereich zu suchen hat. So blieb uns denn das dämliche „Tschö Bruder“ für das Weitere erspart.
Am meisten froh darüber, dass Bennys bescheuerter Bruder nun weg ist, dürfte Thea sein. Es war wirklich schon nicht mehr mit anzusehen, mit welcher Penetranz Sven die arme Frau mit seinen schleimigen Anmachsprüchen belagert hat. Immerhin ist sie verheiratet und hat Kinder. Wobei man Sven wenigstens einen guten Geschmack bescheinigen kann. Denn Thea ist eine Hübsche. Sie ist sogar so hübsch, dass sie bedeutend öfter als wir Anderen an die Kasse muss. „Ein schönes Gesicht hier vorne ist gut fürs Geschäft.“ Diesen Satz hat der Bereichsleiter Moni beigebracht. Moni plappert ihn halbherzig nach, Thea schluckt ihn als Kompliment, lächelt zart, und geht an die Kasse. Und da hat sie dann auch Zeit im Gespräch mit dem Kunden ihrem seltsamen Hobby nachzugehen. Thea achtet auf die Stimmen der Menschen. „Die Stimme sagt so viel über dich aus. Die Ganze Persönlichkeit schwingt da mit. Dein Sinn für Zärtlichkeit oder für Grausamkeit, ob du glaubst oder zweifelst ...“ und was nicht alles. Wenn Thea mir die Stimmen erklärt, tue ich so, als wenn ich ihr zuhöre und nicke von Zeit zu Zeit. Aber in Wirklichkeit nutze ich solche Gespräche nur aus, um so oft wie möglich in ihre schönen dunkelbraunen Augen schauen zu können. Ich würde sie gerne fragen, was meine Stimme über mich aussagt. Aber Tatsache ist: ich komme nicht zu Wort. Manchmal geht sie nur in einen Kinofilm, erklärt sie, weil ihre Lieblingssynchronsprecherin einem Charakter ihre Stimme verliehen hat. Und wenn ein Schauspieler nicht zu einer Stimme passt, dann macht das Thea sehr wütend. Thea habe das Hören von ihrer Schwester gelernt. Die sei blind und zwar von Geburt an... Und so geht das immer weiter und weiter. Ich mime den interessierten Zuhörer. Nicken, nicken und nicken ... Ach, Wahnsinn diese Augen!
Immer wenn Moni sieht, dass Thea mit mir spricht, hagelt es Aufgaben. Die Tische im Außenbereich müssen noch abgewischt werden, vor der Ablage hat jemand Cola verschüttet, der Müll ist noch nicht wegsortiert. Im Lager muss natürlich auch noch jemand nach dem Rechten sehen. Und wenn Moni dann kontrollieren kommt, ob ich die gefrorenen Fischeinlagen auch richtig einsortiere, sagt sie „o.k.“, seufzt und geht ohne ein weiteres Wort. Zurück bleibt die deutliche Spur nicht ausgesprochener Worte.
Ich habe mich nicht selten gefragt, was diese Menschen wollen, worum es eigentlich geht, was hinter ihren Anstrengungen steckt. Im Grunde verstehe ich sie nicht. Aber ich fühle mich aus irgendeinem Grund mit ihnen verbunden.
Dimitri, der alternde Geologiestudent, der sich oft mit der dicken Rosi anlegt, weil sie immer heimlich die Sesambrötchen wegmampft, ist uns allen voraus. Er kann genau benennen wonach er sucht. Ich hab mal in der Mittagspause mit ihm eine Weile draußen gestanden und geraucht. Meine Bereitschaft zuzuhören muss er missverstanden haben als Aufforderung seine Hypothesen, über die „Codierung von Informationen in geologischen Formationen“, weiter auszubreiten. Wenn etwas irre ist, dann das. Der hat mir neulich die mittlere Portion Pommes vors Gesicht gehalten und gefragt. „Strukturen, Strukturen, verstehst du? Was würdest du tun, wenn du Nachrichten über eine Zeitspanne von Hunderttausenden von Jahren übermitteln wolltest?“ Zum Glück rief mich Moni von Dimitri weg noch bevor ich mir eine Antwort oder eine Gegenfrage überlegen konnte.
Tjaja ... Moni. Moni heißt eigentlich Monique. Sie ist 32 Jahre alt, absolut niedlich wenn sie wütend ist und arbeitet hier seit ... na ja, seit Jahren. Moni braucht mich. Wenn ich Spätdienst habe, bestellt sie mich neuerdings für die Abrechnung ins Büro. Rechenarbeit liegt mir. Ich könne es in diesem Business noch zu etwas bringen, erklärt sie mir, wenn wir alleine sind. Aber dazu bräuchte ich noch Erfahrungen und Einblicke befindet Moni. Darum die harte Führung.
Dann wird sie plötzlich ruhig. Ihr Atem geht langsam. Ihr Gesicht verliert seine Alltagshärte und das Geschäftslächeln, hinter dem sie sich versteckt hält. Sie erscheint dann so unendlich sanft und wirkt um Jahre jünger. In jeder ihrer Bewegungen klingt ein tiefes Verlangen nach Zärtlichkeit mit. Und in dieser vollkommen absurden Kulisse flüstert sie mir mit einer fremden Stimme ihr „Komm bitte!“ zu und zieht mich zu sich heran. Dann bin ich ein Mann und sie ist eine Frau. Hinter der Spiegelglasscheibe hetzen Benny, Thea, Dimitri und die Anderen weiter. Da Fast Foot - hier Slow Sex - bis Monique die Augen wieder öffnet, mich anschaut und befreit ausatmet.

Ich lege meine Hand zwischen Moniques Brüste und spüre ihrem warmen Herzschlag nach. Bis hierhin musste ich gehen. Denn allein im Moment dieser einen Berührung erinnere ich mich daran, wonach ich suche, wonach wir alle suchen: Es ist das Leben.
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Alt 19.09.2005, 09:40   #2
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


Wow... Ich bin mir nich sicher, warum ich weitergelesen habe, aber es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Schöne Story, erinnert mich irgendwie an meine Chefin

Respekt, sehr gelungen.

LG, Riif-Sa
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Alt 23.09.2005, 07:52   #3
tagedieb
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 520


Danke Dir, Riif. Du bist Dir nicht sicher warum du weiter gelesen gast und ich weiß nicht, warum ich es geschrieben habe - perfekt. Gruß, tagedieb.
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