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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 16.10.2006, 10:04   #1
reztuneb
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 64

Standard blaue träume II

Direkt am Fenster steigt der Qualm. Langsam verbrennt der Inhalt des Aluminiumaschenbechers. Ein leerer Colabecher, eine leere Zigarettenschachtel, ein alter Fahrschein. Wenn man sich einfach umdreht, kann es sein, dass alles in Flammen steht. Man muss einfach nur gehen und nichts tun. Nicht mehr denken. Einfach gehen und alles hinter sich lassen. Kein Gedanke an die Sekunde zuvor, kein Gedanke an die Sekunde danach. Kein Gedanke an irgendetwas. Es ist nicht das einfache Treibenlassen. Es ist der Zustand vollkommener Harmonie; mit sich selbst und der Welt. Die Zigarettenblättchen sind alle. Es ist kalt. Klingeln. Ein Klingeln. Eine Frau fragt hinter Glas nach der Identität. Eine lange Kette von Zahlen frisst sich durch das Gehirn. Welche davon. Welche davon bloß. Wortlos umdrehen und gehen. Weiter. So viele Lichter. Bewegen, aber jede Bewegung ist umsonst. Ziellos irren Schritte. Ich bin nicht gerne da, wo ich herkomme, ich bin nicht gerne dort, wo ich hinfahre. Warum erwarte ich den Radwechsel mit Ungeduld?

Das dürre Männlein überwacht alles pedantisch. Zähne. Schief wie feuchtes Holz. Das große Warum wird nicht kleiner, nur weil man altert. Bäume sind nicht violett. Gelbe Flecken fallen aus der Tasche. Sie knistern und spotten der sauberen Straße. Wunsch. So viel Wunsch. Niemals so viel gewünscht. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Dreh dich nicht um, dreh dich nicht um.

Würfel. Überall Würfel und verzerrte Grimassen. Seltsame Grimassen auf Köpfen von haarlosen Tieren, die durch die Straßen eilend tanzen, auf der Suche nach kurzweiliger Unterhaltung. Kurzweil. Es weilt kurz. Es weilt lang. Weilen. Ach, verweile doch ein wenig. Augenblick, verweile doch, du bist so schön. Warten können. Warten. Das wirkliche Warten. Auf etwas Warten. Ich warte auf dich. Du wartest auf mich. Warum Warten...? Habe Geduld. Geduldet, erdulden. Dulden. Es galten die güldenen Gulden geduldet zu werden. Ich bin das Blatt Papier und erleide die Rache der Zerstückelten und Vergewaltigten.

Grau stinkt die Luft um mich herum. Eine Meute der Haarlosen schwillt hinweg. Kopflos, von seidenen Fäden gezogen. Sie gurgeln Laute hervor. Flieh, flieh. Meide die Menschen, sie sind böses Getier. Wo sie den Mund öffnen, schallt Lüge heraus. Mit jedem Wort sterben sie einen kleinen Tod und spüren es nicht. Spüren. Die Menschen haben Hunde. Sie können dich riechen und magst du dich noch so gut versteckt haben.

„Guten Morgen, es ist sieben Uhr fünfundfünfzig. Sie hören HR Zwei. In den frühen Morgenstunden wurde in Frankfurt ein weiterer Herointoter gefunden. Der Polizeipressesprecher sagt, dass eine Überdosis, genannt >Goldener Schuss<, die vermutliche Todesursache war. Der Tote war erst neunzehn Jahre alt.“

Tausend Tode stirbt der Mensch. Tausend Leben vergehen. Tausend blaue Träume, die im Rausch verglühen. Festplatte gelöscht. Access denied. Bitte geben Sie das Passwort erneut ein.

Bei meiner Geburt schenkte mir meine Mutter ein Heft, gefüllt mit Zahlen und Buchstaben, auf dass ich Tür und Tor im Leben zu öffnen vermöge. Hast du ein solches Heftchen?
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