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Alt 05.03.2006, 18:01   #1
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280


Standard Seelensonne

Es ist früher Abend. Die Sonne ist kurz davor sich zu verfärben und am Horizont zu verschwinden. Wie jeden Abend wandere ich auf dem kleinen Trampelpfad über lang gestreckte Wiesen und Felder. Das Gras streicht mir kitzelnd an den Waden entlang.
Schon sehe ich den Waldrand, an dem meine Bank steht. Meine Bank, auf der ich täglich den Sonnenuntergang genieße, in meiner eigenen Welt. Schon erkenne ich die Bank, auf der ich mich wohl fühle, auf der ich mich niederlassen kann.
Doch das kann nicht sein. Es sitzt jemand auf meiner Bank. Ich erkenne die langen, braun glänzenden Locken in der Abendsonne. Ich erkenne das Lächeln, welches sich gen Sonne richtet, um die letzten Strahlen des Tages aufzunehmen. Aber ist es nicht meine Seele, die sich sonnen lassen sollte? Es ist die einer Fremden.
Langsam nähere ich mich dir. Deine Konturen werden klarer. Ich stehe nun neben dir, doch du beachtest mich nicht. Ich setze mich neben dich, sage: „Hi. Was tust du hier? Dies ist meine Bank!“ Du schaust mich an. Ich bin fasziniert von deinem Blick. Er scheint mich zu durchdringen. Ich fühle mich dir so nahe, ohne dass du etwas sagst. Doch du sagst: „Ich möchte meine Seele sonnen! Nicht zu stark, nur beim Untergehen. Ich möchte mich nicht verbrennen.“ Sie spricht, wie ich gesprochen hätte.
Gemeinsam sitzen wir auf der Bank. Der Wald hinter uns, dunkel, gefährlich, schattig, kalt. Die Felder und Wiesen vor uns warm, gewärmt, lebendig, feucht.
So sitzen wir da, die Zeit vergeht, unsere Seelen fühlen sich verbunden. So gemeinsam auf der Bank. Wir schließen die Augen und reden. Wir merken nicht, wie die Sonne untergeht. Wir merken nicht, wie der Wald uns einzunehmen scheint. Wir merken nicht, wie die starken, alten Wurzeln über uns wachsen, uns einengen, uns zu ersticken drohen. Die Kälte der Nacht lässt uns aus unserem Traum erwachen. Überrascht, erschrocken schauen wir uns an. Ich sehe dich. Nicht mehr die Creme, die deine Fehler übermalen wollte. Ich sehe deine Narben, sehe deine Fehler, sehe deine verfilzten Haare. Ich finde dich schön. Schöner als in der Sonne. Gemeinsam wehren wir uns. Gemeinsam helfen wir uns aus dem Dickicht des Waldes.
Als wir den Rand des Waldes erreicht haben, geht wieder die Sonne auf. Eine Nacht hat es gebraucht. Eine lange, scheinbar unendliche Nacht. Doch wir haben es gemeinsam geschafft und setzen uns auf die Bank. Wir haben uns im Arm. Fühlen uns von den Strapazen der vergangenen Nacht mit einander verbunden.
Ich nehme dein Gesicht zwischen meine Hände, küsse sanft deine Lippen und streichle dein Gesicht. Ich lasse mich fallen, lasse mich in deinem Schoß nieder und lasse dich durch meine Haare streichen. Ich fühle mich frei, fühle mich befreit. Doch ehe ich mich vollkommen frei fühlen kann, muss ich öfter abends zu dieser Bank am Waldrand kommen und hoffen, dass du da sein wirst und wir uns im Arm halten und ich sanft deine Lippen berühren darf.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.03.2006, 18:55   #2
Elke K
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 31


Hallo Tobil.! Wunderschön, die Geschichte. Du hast es geschafft mit einfachen klaren Worten sehr bildhaft die Stimmungen des Tages und der Nacht darzustellen. Die fast lyrische Beschreibung des kalten Waldes läßt mich moosmodrige Gerüche spüren, die hellen, sonnendurchfluteten nach Getreide duftenden Felder werden fühlbar.

Als ich den Text las, hatte ich eine Asoziation: Die Beschreibung der Liebe! Uralt, mit vielen Narben, oft verletzt. Doch, je öfter man sie sucht, um so besser lernt man, sie anzunehmen, wie sie ist und immer wieder aufs Neue muss man üben, sie nicht zu verletzen. (Das ist meine Interpretation!)

Vielleicht wäre es gut, wenn Du den letzten Absatz noch ein wenig überarbeitest. Wenn ich ihn lese, habe ich das Gefühl, dass eigentlich etwas mehr und aussagekräftiger die Wünsche und Erfahrungen beschrieben werden könnten. - Aber das ist eine ganz persönliche Meinung einer Lesenden!
Elke K ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.03.2006, 19:05   #3
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280


Hi Elke!

Danke, dass du dich mit meinem Text auseinander gesetzt hast.

Ich finde deinen Interpretationsansatz sehr interessant. Ja, es kann sich gut um eine Beziehung, oder Liebe, handeln. Es kann aber auch um Freundschaft gehen. Die Aufarbeitung von schlechten Gefühlen, Erfahrungen etc. die den Wald symbolisiert. Nach der Aufarbeitung, der Auseinandersetzung, geht es einem besser. Man sieht sein Gegenüber (vielleicht den Partner?!) besser, man kann ihn besser verstehen,man kann sich besser verstehen. Die Gefühle des anderen, ebenso des Ichs werden klarer, wenn man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt.
Ich denke nicht, dass ich den letzten Absatz noch überarbeiten sollte. Er ist nicht von so großer Bedeutung. Er schließt den insgesamt kurzen Text rund ab. Finde ich zumindest

Vielen Dank, und es hat mich wirklich gefreut, dass er dir gefallen hat.

Lieben Gruß, Tobi.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.03.2006, 21:07   #4
witness
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 81


Hey Tobi!

Ich finde deine Geschichte sehr schön. Es beruht auf eigener Tatsache denke ich . Und das dann so schön zu beschreiben ist einfach wunderbar .

Für mich hat dieser Text eine sehr große bedeutung
witness ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.03.2006, 11:15   #5
Elke K
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 31


Hallo Tobi! Du hast Recht!
Wenn ich den letzten Absatz anhand deiner Interpretation noch einmal lese, ist er absolut stimmig!
Ich bemerkte nur, dass er, im Gegensatz zur sprachlichen Vielfalt vorher, etwas "dürftig" ausgefallen ist.
Eine schöne Woche! - Elke
Elke K ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.03.2006, 11:21   #6
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280


Hi Elke,

hmm... stimme zwar nicht mit dir überein, denn die, von dir bezeichnete, "Dürftigkeit" macht doch alles klar. Die Gefühle werden ohne jegliche Schnörkel vermittelt. Ich finde es so sehr gut.
Aber die Geschmäcker sind unterschiedlich, zum Glück ;-)

Dir auch eine schöne Woche.

LG, Tobi.

P.s Ich würde mich freuen, wenn auch jemand anderes etwas dazu schreiben würde, schließlich schreibe ich immer fleißig zu euren Gedichten und Geschichten. Da ist es ja nicht zuviel verlangt, wenn ich auch mal ein wenig Feedback bekomme... ob nun schlecht oder gut.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.03.2006, 13:28   #7
Ra-Jah
gesperrt
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 481


Entschuldige, etwas spät (ich kannte die Geschichte schon, sie wurde mir vorgelesen), aber ich will dir gern sagen was ich davon halte:
Ich konnte mir beim Hören sehr gut eine bestimmte Landschaft vorstellen.
Wenn Wörter diese Kraft haben, dann sind sie definitiv bedacht gewählt.
Es ist kein schwieriger Text, obwohl er offen ist, er wiederholt sich etwas, trotzdem: das muss so.
Gefällt mir!
Ra-Jah ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.03.2006, 13:33   #8
witness
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 81


Mit klang einer stimme kommt sie auch besser zur geltung 8)
witness ist offline   Mit Zitat antworten
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