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Alt 18.02.2006, 21:36   #1
Ra-Jah
gesperrt
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 481


Standard Einkaufen mit Opa

Einkaufszentrum, Hinweg.
Radio-Zapping; Tony Christie singt aus seinem "Is this the way to Amarillo?"
When the day is dawning,
On a Texas Sunday Morning
[so lang ist der Song echt gut]
ich dreh auf und merke: Nein! Es wird doch ein mieser Schlager.
Umschalten, einfahren, Karte ziehen.

Parkplatznot; einer ist fast eingeparkt; ein Aufseher lotst hinaus. Zehn Zentimeter nach vorne links, zehn nach hinten rechts.
Ich warte und schaue. Wird er sich festfahren? Ein anderer Raum eröffnet sich. Der hinter mir ist schneller drin, obwohl er kürzer gewartet hat.
Ich tue ein wenig pikiert, spiele aber lustlos und schlecht.
Und er nimmt seinen Part wahr, tut ein wenig so, als ob er doch im Recht sei. Später werde ich ihn nochmal wiedertreffen, zwischen Brot und Gemüse. Er wird mich nicht anschauen.
Im Radio läuft, leicht knisternd (Immerhin sind um mich herum Tonnen von Beton): "No woman, no cry!"
Eine Frau räumt ihre Einkäufe in den Kofferaum ihres silbernen Geländewagen. Riesiges Auto. Vermutlich ein Chrysler.
Nein Frau, weine nicht!
Ich bin ein Mann. Ich werde weinen. Aber nur ganz wenig. Später.

Mir gefällt diese Atmospähre. Alles so marode.
Nächstes Mal vielleicht:
einfach ne Stunde mit laufendem Motor stehen, so tun, als ob man keinen Parklplatz findet.
Leute kommen und gehen sehen ("Under the boardwalk").
Oder auch nicht - hier.

Dann aber doch rein ins Getümmel.
Geldautomat.
Eine junge Frau vor mir, mit riesigen, wunderschönen Augen legt den Finger verträumt auf die Lippen.
Mjam?! Ihr Kinn ist leider nicht sehr hübsch. Aber die Augen... und die Geste. Erotisch.
Später werde ich auch ihr erneut begegnen, unter all den tausenden Menschen hier.
Hinter ihr schlendernd, sehe ich dann neben ihr einen schlacksigen Mann gehen, ein kleines Kind auf der Schulter.

Pubertierende Söhne mit Schlabberhosen und bürgerlich-adrett gekleideten Müttern an ihrer Seite, laufen unruhig
durch die Fressmeile in Richtung Sport-Sperk. Nike-Air-haben-wollen.
Oder so.
Hoffentlich keinen Bekannten begegnen.

Junge Mädchen, hübsche -aber aufgemotzt- und ihre Freundinnen -nicht ganz
so hübsch, aber auch aufgemotzt-, genießen das Flair. Großartig der Konsum.
Shopping Mall (exclusive residential area) - par excellence. So viele Düfte, so viele Gesichter. Und soviel Geld von Mama und Papa.

Einige etwas genervte Mädels, deren Eltern wohl nicht ganz so reich sind, bedienen an den Kassen, oder räumen im Supermarkt Joghurtpaletten ins Regal. Nächstes Wochenende werden sie sich frei nehmen und an dem Spiel auf der anderen Seite teilnehmen.
Es sind zumeist die, die nicht ganz so hübsch wirken. Die, die noch Platz im Kopf haben, aber trotzdem dazugehören wollen, um nicht ganz ausgestoßen dazustehen.

Ein Behinderter im Rollstuhl reiht sich in den Strom ein. Und er ist nicht allein.

Familien mit Kindern, kleinen, recht viele davon. Nur ein bis zwei aber pro Keimzelle: aber.
Und auf einer Bank sitzt ein älterer Herr und gähnt.

Nur noch schnell fünfzig Euro raushauen, minimal und doch fielmann!

Namen bitte hinterlassen (wegen Rückrufaktion, klar).
Alle Kontaktlinsenträger Deutschlands sind registriert. Wann werden sie uns abholen?

Beim Ausparken sehe ich den Einparker zu seinem Auto schlurfen.
Ich schnauze ihn -ein wenig zu unecht- an.
Wie konnte er den armen Menschen 10 Minuten da rauskurven lassen?!
Weise ihn auf das DIN A4 grosse Ticket hin, das an seiner Windschutzscheibe klemmt und das er noch nicht erblickt hat.
Er murmelt -ein wenig zu freundlich- irgendetwas, es klingt so als ob es ihm scheissegal wäre. Mini-Cooper(fahrer), rot.


Morgen wasch ich mein Auto, dann ist es auch so sauber.

Ich muss an meinen Opa denken,
sein Auto, das er kaum fuhr und trotzdem alle paar Jahre gegen ein neues eintauschte, es war immer blitzblank.

Mein Grossvater kam aus dem Krieg und wurde, erzählte meine Mutter, einer der spiessigsten Menschen der Welt.
Im Krieg Kette geraucht, aus dem Osten nach Haus marschiert, nach dem Krieg aufgehört, kein Rückfall in diese Sucht.
Alpträume und Herrschsucht zerrütteten die Ehe.
Nie sprach er über seine Erlebnisse.
Bild-Zeitung und CDU. Einmal vierhundert Mark im Lotto gewonnen, (aber) lebenslang gespielt.
Saß am Fenster und hat sich die Kennzeichen von Falschparkern notiert.
Mein Auto wurde auch mal abgeschleppt durch
sojemanden.
Und doch nahm er meine kleinwüchsige Tante nach der Scheidung mit meiner Oma auf, sie hingegen den jungen, gesunden Onkel.

(Meine Mutter, schon achtzehn -aber noch nicht einundzwanzig-, kam in der Wohnung meiner Urgroßmutter unter und lernte dort französischen Käse kennen. Diese ließ damals bewußt die Graspflanzen meiner Mutter auf dem Balkon vertrocknen,
als jene nach London fuhr um dort im Sommer '69 in Soho Hippie zu spielen. Habe vor ein paar Tagen mit ihren alten Blättchen von damals, die sie noch aufbewahrt hatte Joints gedreht. Alle Kreise schließen sich.)

Halber Rausschmiss;
einer seiner vielen Fernseher steht nun in meiner Wohnung.

Mein Opa starb vor einigen Jahren an Lungenkrebs, fünfzig nach seiner letzten Zigarette.
Er brachte meiner Schwester und mir zu Weihnachten immer viele billige Schokolade mit. Von Aldi. Auch die mit den Nüssen. Nussbeisser.
Die assen wir immer erst, wenn die leckeren Süßigkeiten alle waren. Hab sie nie gekauft, nie wieder gesehen. Werde danach schauen.

Mein Opa war ein guter Mensch; das Schicksal sehr hart zu ihm.
Eine kleine Träne bahnt sich langsam den Weg in Richtung meiner Wange.
Aus Selbstmitleid.
Nein, ich habe sie falsch eingeschätzt, sie bleibt im Auge hängen, läuft doch nicht hinunter, verteilt sich.
Wie ein Fluß, der in der Wüste zertrocknet.
Kontaktlinsen in den Augen: trockene Augen.
Mein Opa hat mir geholfen.
Ra-Jah ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2006, 12:16   #2
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280


Schade, dass so wenig Leute Kurzgeschichten lesen, bzw. bewerten, schließlich haben wir hier wieder ein sehr nettes Exemplar!

Ich finde deine Geschichte gut. Besonders toll finde ich die Beschreibung der verschiedenen Charaktere in der shopping-mall. Interessant, hättest vielleicht noch ein wenig mehr Gruppen beschreiben können. Ist sicher ne gute Idee.
Den zweiten Teil mit dem Opa finde ich auch recht amüsant.

Diesen Absatz finde ich total genial. Ich bin wirklich beruhigt, dass deine Mutter wenigstens schon 18 war, als sie französischen Käse kennen lernte. Auch den Einbau des Wortes "bewußt" finde ich gut, nur, Hippie hat man nicht gespielt, es war ne Art Lebenseinstellung!

"Meine Mutter, schon achtzehn -aber noch nicht einundzwanzig-, kam in der Wohnung meiner Urgroßmutter unter und lernte dort französischen Käse kennen. Diese ließ damals bewußt die Graspflanzen meiner Mutter auf dem Balkon vertrocknen,
als jene nach London fuhr um dort im Sommer '69 in Soho Hippie zu spielen."

Den Zusammenhang zwischen den beiden Geschichten habe ich leider noch nicht erschließen können, werde die Geschichte aber noch ein- zweimal lesen. Vielleicht komme ich dann drauf.

Wie gesagt, tolle Geschichte.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2006, 12:49   #3
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756


Ich finde die Geschichte auch klasse. Mir fallen diese bestimmten Charaktere, die ein Querschnitt durch die Bevölkerung sind, schon gar nicht mehr auf. Ein weit verbreitetes Syntom unserer Gesellschaft. Zeitmangel und verschlossene Augen. Sehr schön dargestellt. Und weinen mit Kontaktlinsen ist wirklich keine schöne Sache
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2006, 14:23   #4
Ra-Jah
gesperrt
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 481


Oh, Feedback. Das tut gut. Danke an euch beide.

@TobiL.
Der Zusammenhang zwischen den beiden Teilen ist sehr wackelig, jedoch durch drei Handlungsstränge determiniert. Der entscheidene Auslöser, der schon am Anfang nebensächlich erwähnt wird, kristallisiert sich später erst hinaus. Die Geschichte zu schreiben war für mich wie ein Abenteuer in mich selbst zu horchen. Indiziensammeln; am Schluß fügt sich das Bild zusammen.

@Yve
Ich fands angenehm, dass ich dem Weinen einige positive Aspekte abgewinnen konnte; Gedenken, Benetzung, Selbstbewußtsein.
Ra-Jah ist offline   Mit Zitat antworten
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