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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 12.02.2006, 22:02   #1
Silent Winter
 
Dabei seit: 04/2005
Beiträge: 224

Standard Nachkriegsszene

Na, ich weiß nicht.
Kommentare, bitte?

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Stein auf Stein auf Stein auf Stein auf Stein. Meine Hand baut kleine, hässliche Plastikruinen auf, ohne das Ergebnis zu erahnen. Meine Hand denkt Konzepte in die warme Luft und meine Hand malte Ideen auf den kalten Holzboden. Wir sind Gefangene in unserem eigenen Buch. Meine Hand erschafft verlassene, zerbombte Bauernhöfe und ausgestorbene, verbrannte Hochhäuser. Kleine, bunte Plastiksteine stapeln sich zu Gebäudekomplexen und werden zertrümmert. Wir sind nur Sklaven unseres eigenen Films. Das ganze Leben einer irrealen Generation von Geistern scheint nur Lego, dummes Plastik ohne Gefühl in meinen Händen. Ich baue meine eigene kleine Stadt, meinen eigenen, kleinen Kriegsschauplatz. Wir sind nur Fakten in unserem Zeitungsartikel. Meine Hände setzen Fenster und Türen ein, schaffen Grundriss um Grundriss um Grindriss um Grundriss…Manchmal scheint mein ganzes Leben, meine Existenz mir nur wie ein Spiel. Plastikklötze auf der Suche nach Erleuchtung, Erlösung und dem Ende. Schienen aus recycelten Barbiepuppen und Vibratoren auf dem Weg in der Freiheit, in die Feigheit. Ich spiele meinen eigenen Gott und staple Stein auf Stein auf Stein auf Stein… bis die Mauer steht. Ich baue und erschaffe und konstruiere, bis mir die Lust vergeht und alles in einem Haufen rechteckiger, kleiner, bunter Steine auf dem kalten Fußboden endet. Gesprengt von Fuß und Hand. Jeder Wunsch, jedes Sehnen: Zerschmettert und zerstört und in kleine. Bunte Bausteine verpackt.
Wir erschaffen unsere eigenen, kleinen Gedankenwelten auf der Suche nach Hilfe, nach einem Erretter – aus Langeweile und Banalität. Wir wollen ein wildes Leben und wir werden es finden. Wir wollen ein behütetes Heim und wir werden es finden. Und werden so viele Möglichkeiten Geboten. Leben in Fertigpackung auf dem Präsentierteller. Kleine, bunte Bausteine. Bausätze zur Perfektion. Bücher, Filme, Fernsehen, Zeitschriften, Musik, Spiele. Alles zeigt Prototypen für unsere Existenz auf. Eine Schablone, eine Vorlage für Sehnen und Wünschen und Träumen und Wissen. Wir nutzen alles um uns wie der Held zu fühlen, um ein wenig von Ruhm und Ehre und Leid und Qual des Protagonisten abzubekommen. Unsere Seelen gieren nach Abenteuer, nach Spannung, nach etwas, dass uns bewegt und aufschwingt. Wie eifern nach einer Sache, die wir zu erzählen haben, nach der Geschichte unseres Lebens – als wäre sie unter all den anderen etwas Besonderes, dass jeder gelesen und gehört und gekannt haben muss, bevor er zugrunde geht. Wir suchen nach etwas, das uns nicht so profan erscheint. Wir wollen unserem Tode nahe sein – oder zumindest dem Tod eines Anderen – um jeden Preis. Wir brauchen die große, vermarktbare Geschichte, die es zu erzählen gilt. Damit wir nicht so unbedeutend und klein vor der Welt erscheinen. Damit wir noch beim jüngsten Gericht unser Werk anpreisen können – um niemals in Vergessenheit zu geraten. Wir sind hoffnungslose Individualisten und so schwimmen wir alle gemeinsam, wie die Lachse, gegen den Strom. Und Stein auf Stein auf Stein bauen wir uns eine große Statue, in der Hoffnung, dass wir sie in den Gedächtnissen Anderer errichten. Wir erschaffen in unserem Kopf die Geschichte und ein Land darum und dann erschaffen wir unsere Regierung und die Feinde und die Waffen, die unser mühsam gebautes Land zerstören sollen. Etwas, das uns ausrottet, damit man die Chance hat uns nicht zu vergessen. Wir lassen unsere Statue in Schutt und Asche untergehen, damit wir darum weinen können. Wir zerstören unsere Leben und machen uns unglücklich uns schneiden die Wunder unter das Salz auf unserer Haut und dann…
Suchen wir unsere Erleuchtung. Wir bauen Stein auf Stein. Ich bewundere Kinder. Denn Kinder geben diesen Traum noch wirklich ohne Scham zu.
Wir suchen nach einem Grund für Mitleid und Erinnerungen. Nach Zärtlichkeit. Denn alles, was wir zu erreichen suchen, mit unserer Zerstörung, ist es am Ende des Krieges in behüteten Armen zu liegen und zu hören, dass alles gut wird. Das alles gut ist. Nicht vergessen werden - um jeden Preis.
Wir bauen Stein.
auf.
Bauen Stein.
Silent Winter ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.02.2006, 00:03   #2
tagedieb
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 520

Wow.

Erstmal muss man sehen, wo die SpiegleinspiegleinanderWand, die uns huldigen sollen, sind um sie wütend herunter hauen zu können. Unangenehm, wenn es jemandem gelingt - so wie Dir.

Ich würde den Text komprimieren. Ich denke es sind Aussagen darin, die sich wiederholen.

Ansonsten auch hier: Die Brücke aus dem Alltäglichen in die Reflexion gefällt mir.

Lego: Lego-Programmiersprache, Lego-Auto, Lego-Versicherung, Lego-Haus in groß, Lego-Nahrung ... Das sind so Sachen, die mir begegnet sind. Das "Lego-Prinzip" ist die Marklückennischenmasche unserer Zeit.
tagedieb ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.02.2006, 00:10   #3
Ra-Jah
gesperrt
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 481

Wär es nicht besser man baute mit organischem Material?
Menschen?!
Die können erfahren und sind dem Großen und Ganzen neu und aufgeschlossen gegenüber, formbar wie Lehm und zart wie kristallklares Wasser..
Dennoch mag ich den Text. Ich hab übrigens früher tierisch gern mit lego gespielt, tausende Kombinationen und immer auf der Suche nach dem richtigen Stein... Ich glaube Worte sind mein heutiges lego...
Ra-Jah ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.02.2006, 13:46   #4
Silent Winter
 
Dabei seit: 04/2005
Beiträge: 224

Zitat:
Ich würde den Text komprimieren. Ich denke es sind Aussagen darin, die sich wiederholen.
Oh, ich finde meine Wiederholungen nicht schlimm. Ich wiederhole gerne.
Aber danke für deine Kritik usw.
Freut mich, wenn es dir gefällt.

Zitat:
Original von Ra-Jah
Wär es nicht besser man baute mit organischem Material?
Menschen?!
Die können erfahren und sind dem Großen und Ganzen neu und aufgeschlossen gegenüber, formbar wie Lehm und zart wie kristallklares Wasser..
Nein, das passt nicht zur Aussage. Natürlich SOLLTEN wir das - naja, vielleicht zumindest. Aber wir sollten auch vieles, mein Lieber.


Zitat:
Ich hab übrigens früher tierisch gern mit lego gespielt, tausende Kombinationen und immer auf der Suche nach dem richtigen Stein... Ich glaube Worte sind mein heutiges lego...
:up:

Und Lego ist doch eigentlich toll, glaube ich.
Silent Winter ist offline   Mit Zitat antworten
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