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Alt 17.11.2005, 12:41   #1
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


Standard Zweihundertvierzig

Ich blicke sie an. Ich betrachte jeden Quadratzentimeter ihrer schneeweißen Haut als ob ich sie in mich einsaugen würde und, bei Gott, ich würde, wenn ich könnte. Ihre Wimpern schmiegen sich scheinbar unendlich lang an ihre zarten Wangen, ihre geschlossenen Augen bewahren sie vor der Realität, vor der Grausamkeit, der unabwendbaren Wahrheit. Meiner Wahrheit. Ihre schwarzen Haare legen sich über ihr Gesicht, ihre Augenlider und über ihre blassroten Lippen. Jedes einzelne davon glänzt im Licht der frühen Morgensonne, die im flachen Winkel durch das Fenster auf sie scheint. Wie oft habe ich sie schon so gesehen? Ich will darüber nicht nachdenken, aber dennoch war sie nie schöner. Ich wünschte, der Umstand, der mich das alles klar erkennen lässt, wäre ein besserer, aber das ist mein Schicksal. Ich habe es nicht gewählt und ich habe nie darum gebeten, aber es ist mein Schicksal und ich kann nichts dagegen tun. Ich muss es annehmen, obwohl ich nicht will. Ich will bei ihr bleiben, sie ist so schön. So wunderschön.

Langsam öffnet sie ihre Augen. Sie hat alle Zeit der Welt, um sie sich mit ihren großen grünen Kulleraugen anzuschauen, aber sie sieht mich an. Langsam bewegt sich ihr Arm in meine Richtung, führt ihre Hand zu meinem Kopf und streicht mir unendlich zärtlich durch mein zerzaustes Haar. Dann ist da dieses engelsgleiche Lächeln auf ihren Lippen, dass mir ein einen schmerzenden Stich in die Brust versetzt. Sie schenkt dieses Lächeln nur mir allein. Es macht mich stolz, ich freue mich wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter gelobt wird, weil es grade sein erstes Bild gemalt hat. Ein paar übereinander gekritzelte grüne und braune Striche und die Mutter erkennt, dass es ein Baum ist. So stolz. Ohne es zu merken, muss ich auch lächeln. Ich liebe sie. Mehr als mein Leben.
„Wie lang bist du schon wach?“ Der Klang ihrer Stimme, wie Töne. Wäre die Stimme ein Instrument, sie wäre eine Virtuosin.
„Ich habe nicht geschlafen.“ Flüstere ich in ihre Richtung. „Ich werde nicht mehr schlafen, bis es vorbei ist.“

Ihr Lächeln verschwindet und auch wenn ihr zartes Gesicht dadurch nichts an Schönheit verliert, verliert es doch so viel. Es tut mir leid. Ich wollte es nicht erwähnen

Die Ärzte geben mir noch zehn Tage. Es ist ungefährlich für andere, es kann nicht nach außen, aber es ist in mir und es ist nicht heilbar. Es war ein Versehen, ein Missgeschick, kaum als Unfall zu bezeichnen, fast wie in einem schlechten Witz. Ich hätte gelacht, wenn ich mich erinnert hätte, wie das geht. Ich verschwende keine Zeit mit Gedanken an das, was passiert wäre, hätte irgendwer diese Prozedur ausgelassen oder hätte ich wo anders gestanden. Diese wunderschöne Frau neben mir tut das. Ich habe versucht, sie davon abzubringen, aber ich kann es ihr nicht übel nehmen. Ich kann ihr gar nichts übel nehmen, aber es geht ab von der Zeit, die wir noch zusammen haben. Seit gestern weiß ich, dass Zeit das kostbarste ist, was ein Mensch besitzen kann. Ich mache davon Gebrauch, bis es mir nicht mehr gegönnt ist.

Sie sagen, es ist Gamma-Strahlung, die schlimmste von allen. Sie frisst mich langsam auf, verbrennt mich von innen. Letzten Endes mache ich mir doch zu viele Gedanken, aber während mein Engel schläft, komme ich manchmal gedanklich ab und schon stelle ich mir wieder all diese Fragen. Irgendjemand anderes sollte diesen Job machen, irgendein Versager, der alleine lebt, keine Freunde hat und den niemand vermisst. Ich wollte ja eigentlich zur Kriminalpolizei, stattdessen lande ich beim Sicherheitsdienst im Kernkraftwerk. Dabei habe ich mit all dem nichts zu tun, ich habe gar keine Ahnung von Chemie oder Physik. Wie gesagt, es war nur ein Versehen. Nur ein Missgeschick.

Zehn Tage. Das sind 240 Stunden. Das ist nicht viel, nicht wenn man weiß, dass man nur noch so lange zu leben hat. Dass Zeit relativ ist, wusste ich schon vorher, aber heute Nacht, irgendwann zwischen zwei und drei ist es mir auf einen Schlag bewusst geworden. 12 von den 240 sind bereits vergangen, seit mich der Arzt untersucht hat und mir durch das Mikrofon auf der Innenseite seines Schutzanzuges mitgeteilt hat, wie lange ich noch zu leben habe. Zehn Tage. Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag vielleicht noch, Donnerstag vielleicht aber auch schon nicht mehr. Was macht das schon? Ich habe keine Wünsche. Ich will das Meer nicht sehen, ich will keinen Formel 1 Wagen fahren und ich will auch nicht, dass mir Angelina Jolie einen Privatstrip gibt. Wollte ich früher alles mal, aber da war ich noch nicht sehr reif, ich kannte die Frau noch nicht, die jetzt neben mir liegt und mich mit großen feuchten Augen ansieht und ich wusste noch nicht, wann ich sterben werde.

Nicht zu wissen, wann man stirbt ist ein wahrer Segen. Die meisten Menschen werden leicht depressiv, weil sie sich einreden, sie hätten ihre kindliche Naivität verloren. Das haben sie nicht, sie haben nur keinen Grund, es zu sehen. Sie können träumen, sie können schlafen, über mehr oder weniger belanglose Dinge nachdenken und das Leben ab und zu an sich vorbeiziehen lassen. Ich kann mir nichts von all dem erlauben, ich würde mir Vorwürfe machen und dann würde ich merken, dass ich Zeit damit verschwendet habe, mir Vorwürde zu machen. Es würde Minuten dauern, bis ich bemerke, dass ich Zeit verschleudere. Zeit, wissen Sie, ist das wertvollste, was ein Mensch besitzen kann. Diese Minuten nutze ich lieber, um meinen Engel zu betrachten. Oh Gott, wie ich sie liebe. Was wird sie wohl tun, wenn ich nicht mehr da bin? Ich habe ihr versprochen, immer für sie da zu sein. Dieses Versprechen kann ich nicht einlösen. Ich weiß, dass sie mir das nicht verübeln wird, sie hat verstanden. Ich arbeitete, um unsere Familie zu ernähren. Jetzt habe ich eine Abfindung bekommen, von der sie vielleicht drei Jahre gut über die Runden kommt. Es wird alles gut. Wir werden den Staat ausnutzen, dagen spricht nichts. Uns beiden hat die Ehe nie etwas bedeutet, wir wollten nicht heiraten. Jetzt werden wir es tun, damit sie später versorgt ist. Sie wird es schaffen, tapferer kleiner Engel.

Familie. Da ist wieder dieser stechende Schmerz in meiner Brust, als ich über dieses Wort nachdachte. Ich werde das Kind, das ich ihr geschenkt habe, nie aufwachsen sehen. Ich werde nicht einmal mehr erfahren, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Wir wollten viele Kinder haben. Drei oder vier. Es schmerzt zu stark, ich will nicht darüber nachdenken, was ich alles nicht mehr machen kann.

Eine Träne rollt ihr die Wangen hinunter. Sie hat mich die ganze Zeit angesehen. Ich drücke ihren Kopf an meine Brust und sie schluchzt leise.
„Bitte weine nicht.“ Flüstere ich ihr ins Ohr.
Eine Weile passiert nichts. Ich streichle ihr sanft über den Rücke und rieche den süßen Duft ihrer Haare. Was habe ich ihr nur angetan? Sie holt stoßweise Luft und ihr Bauch zieht sich ruckartig zusammen. Sie blickt zu mir auf. Die Tränen fließen nacheinander und bilden einen kleinen Bach, doch sie lächelt. Wie ein Engel.
„An dieser Stelle müsste jemand traurige Klaviermusik spielen.“ Flüstert sie und blickt mich erwartungsvoll an.
„Ja.“ Sage ich, und denke: Jemand müsste das Drehbuch umschreiben, so, dass am Ende alles gut wird. Doch ich sage nur: „Ja.“ Und versuche zu lächeln. Ich will ihr nicht den Mut nehmen, von dem ich mir nicht eingestehe, dass ich ihn längst verloren habe. Es funktioniert nicht, sie merkt es, aber versucht auch, zu lächeln, mit ihren Tränen in den Augen.

Das Telefon klingelt. Gestern klingelte es ständig. Es war in den Nachrichten und irgendwer war an ein Foto von mir herangekommen. Es war ein altes, aus meiner Zeit beim Bund. Wir sind nie rangegangen. Ich habe meinen Eltern und meiner Schwester gesagt, dass wir sie am Sonntag zum Essen einladen, sonst möchte ich niemanden sehen. Für all die Leute, die anrufen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, habe ich keine Zeit. Das ist der Egoismus, der mir zusteht. Diese Leute machen sich Vorwürfe, aber nicht lange und dann vielleicht nie wieder. Vielleicht markieren sie es in ihrem Kalender und stellen irgendwann entsetzt fest: Ihr Mann ist vor zehn Jahren gestorben. Und dann schicken sie ihr Blumen. Dabei mag sie gar keine Blumen.

„Wie kann man Blumen hassen?“ Fragte ich sie.
„Ist nichts Persönliches gegen die Blumen,“ entgegnete sie, „ ich hasse es, dass Menschen sie als Geschenk benutzen. Eine Blume in einer Vase im Wohnzimmer, das ist so, als würde ich mir einen sterbenden Menschen halten, der an einem Tropf hängt. Außerdem sagen sie nichts. Sie sagen uns nichts von der Liebe, nichts vom Leben und nichts vom Frieden. Alles, was sie uns aufzeigen, ist die Vergänglichkeit. Wenn sie könnten, würden sie sich schämen, in einer Vase am Fenster zu stehen, wissend, dass sie in ein paar Tagen verwelkt sein werden. Ich rede nicht von Pflanzen, sondern von doofen, bunten und albernen Blumen.“
Sie machte eine Pause, dann sagte sie, mehr zu sich als zu mir: „Das muss grausam sein.“
„Was?“ fragte ich.


Ihre Antwort werde ich nie vergessen.

„Wirst du Blumen auf mein Grab legen?“ frage ich.
„Sicher.“ Entgegnet sie. „Warum nicht? Das macht man doch so.“
„Du magst doch keine Blumen.“
Sie lacht leise und zögernd, aber ehrlich. Es ist so erfrischend.
„Stimmt. Na ja, es ist dein Grab. Was soll ich denn dann drauflegen?“
„Nichts.“ Antworte ich. „Pflanz etwas. Etwas, was nicht viel Pflege braucht. Goldregen oder so.“
Sie lacht. Es tut so unendlich gut. „Nein, das würde blöd aussehen. Weißt du was? Ich pflanze dir eine Buntnessel.“
Ich nicke, lächele sie an, lege meine Hände um ihre Hüften und meinen Kopf ganz sanft an ihren Busen. Ohne sie ist mein Leben nicht komplett, unvollständig. Ich vermisse sie jetzt schon. Ich verschwende keinen Gedanken daran, was danach kommen könnte. Ich bin mir sicher, dass ich das noch früh genug erfahren werde. Noch zehn Tage. Ich merke, wie sich meine Lider nach unten ziehen, als ob sie magnetisch angezogen werden. Ich will eigentlich nicht schlafen, aber ihr sanftes Kraulen an meinem Hinterkopf und die Wärme und Weichheit ihrer Brüste lassen mich langsam der Realität entgleiten. Ich habe Angst, nicht wieder aufzuwachen. Auf der Schwelle zum Traum höre ich ihre unendlich sanfte Stimme, die sie wie eine wahre Virtuosin beherrscht: „Ich werde dich nicht verlassen.“ Ich wünschte, ich könnte ihr das auch so glaubhaft versprechen.

„Das muss grausam sein.“ Sie sagte das mehr zu sich als zu mir.
„Was?“ fragte ich.
„Zu wissen, dass man bald sterben wird.“
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.11.2005, 12:51   #2
Hassi
Gast
 
Beiträge: n/a

Wieso sind 10 Tage = 168 Stunden und nicht 240 ?

Ansonsten, sehr bewegend geschrieben. Ich jedenfalls mag es.

Grüße
Hassi
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Alt 17.11.2005, 13:05   #3
Ex Mondsüchtig
abgemeldet
 
Dabei seit: 10/2005
Beiträge: 265


das ist eine sehr schöne und sehr ergreifende geschichte...ich mag sie auch...
Ex Mondsüchtig ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.11.2005, 13:49   #4
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


...manchmal möchte ich im Boden versinken.
Wie schön das doch wäre, wenn die Woche zehn Tage hätte, dann käme man nicht so leicht durcheinander. Natürlich heißt auch die Geschichte Zweihundertvierzig. Peinlich
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.11.2005, 21:29   #5
Nothingness
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 140


Oh man, schöner trigger...

*Schnüff*
Nothingness ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.11.2005, 21:38   #6
Bluestar
 
Dabei seit: 04/2005
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Alter: 42
Beiträge: 155




Das ist sooo schön traurig
Bluestar ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.11.2005, 23:45   #7
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


Zitat:
Original von Nothingness
Oh man, schöner trigger...

*Schnüff*
Tut mir leid... wusste ich nicht.
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.11.2005, 23:58   #8
Nothingness
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 140


Naja, Betonung auf schön Sowas macht mich immer so nachdenklich und traurig, daher trigger, aber eben ein schöner, weils ne schöne Geschichte ist.
Nothingness ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.11.2005, 23:59   #9
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


oh.. ach so. Danke schön *s*
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.11.2005, 00:06   #10
Black Heart
 
Dabei seit: 09/2005
Beiträge: 50


Die Geschichte ist toll und alles andere wurde ja schon gesagt. Das Ende bringt doch jeden zum beben... sehr schön... *schnief*
Black Heart ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.11.2005, 05:04   #11
Nachtfalke
 
Dabei seit: 11/2005
Beiträge: 2


Wunderbar zart und authentisch geschrieben... Danke...
Nachtfalke ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.11.2005, 13:58   #12
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


Vielen lieben Dank für die netten Worte.
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
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