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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 22.01.2008, 00:11   #1
westpol-radio
 
Dabei seit: 01/2008
Beiträge: 10

Standard Das ist alles nur der Wind schuld.

Ich habe kein Geld für eine Reise. Das ist alles nur der Wind schuld. Ich sitze im Auto und fahre zehn Kilometer und komme mir vor, als hätte ich noch tausend zu fahren, und manchmal denke ich: In welchem Dorf bin ich jetzt eigentlich gerade? Im Radio läuft etwas unsägliches von Duran Duran, natürlich bin ich immer im richtigen Dorf, und dann muß ich wieder aussteigen.
Ich stelle mir vor: Die Wirbelsäule ist so etwas wie ein Instrument, und wenn sie wehtut, ist sie verstimmt. Man geht dann zum Physiotherapeuten, der klopft mit kleinen hölzernen und silbernen HämCDPhen daran herum und horcht, dann dreht er den einen oder anderen Wirbel und horcht wieder, und wenn er ein guter Physiotherapeut ist, kann er einen Lendenwirbel auf zwei Hertz genau stimmen, beispielsweise. Dann merkt man fast nicht mehr, daß man diesen Wirbel überhaupt hat.
Ein schlechter Physiotherapeut hingegen läßt seine Patienten mit Halswirbeln herumlaufen, die einen Vierteltonschritt danebenliegen, oder mit einem chronisch zu tiefen Steißbein. Ein altes Sprichwort würde dann besagen: Trau keinem blinden Busfahrer und keinem tauben Physiotherapeuten.
Hier muß ich aussteigen. Ein Mann mit einem Gehwägelchen geht über die Straße. So ein kleiner, verhutzelter, wo man sofort denken muß: Ach, der arme Mann, der ist sicher einsam und hat Arthritis, und die Kinder kommen nur aus Pflichtgefühl und Anstand vorbei, damit es in der Wohnung nicht zu stinken anfängt. Plötzlich sieht der Alte einen anderen Alten auf der anderen Straßenseite, bleibt mitten auf der Fahrbahn stehen und röhrt mit gewaltiger Stimmkraft: Daß du nach gestern Abend überhaupt noch laufen kannst! Und der andere röhrt zurück: Ha, 's muß ja, 's muß ja!
Dann hupt ein Auto, und der Alte setzt sich in Bewegung, wobei er nach hinten winkt und nach vorne brummelt, schwungvoll hebt er sein Gehwägelchen den hohen Bordstein hoch.
In welchem Dorf bin ich eigentlich? Die Bank hat geschlossen. Eine Bank, die freitags nur am Nachmittag öffnet; das gibts doch gar nicht, oder?
Schlafen. Was wäre das schön, einfach anzuhalten und zu schlafen. Im Radio läuft Werbung für ein tolles Finanzsicherheitspaket. Um sowas muß man sich kümmern! Manche meiner Freunde, mit denen ich früher immer über die Geldsicherheitsängste der Leute spottete, haben jetzt Bausparverträge und Riesterrenten. Meine Verachtung für Vernünftiges Langfristiges Vorsorgen sitzt so tief und sperrig in meiner Seele, daß ich beim Anhören der frivol-optimistischen Männerstimme, die mir wachsende Zinsen in einem Ton anpreist, der für religiöse Erlebnisse reserviert sein sollte, das Gesicht verziehe, obwohl mich niemand sieht. Das schlechte Gewissen kommt eine Sekunde zu spät.
Im Auto ist immer die Ruhe vor dem Sturm. Bevor man nicht anhält, passiert nichts. Neun Kilometer lang stelle ich mir Liebesszenen vor, Orgasmusgesichter, Geschwindigkeitsräusche, Freien Fall, Heliumschwimmbad und Nachtgewalten. Im Radio läuft Neneh Cherry. Ich höre auf zu träumen und gebe Gas, um eine Baustellenampel bei Rot zu überfahren. In welchem Dorf bin ich eigentlich?
Das Auto ist schon ganz schön voll. Bald habe ich alles und darf nach Hause. Ich werfe die Krankmeldung in den Firmenbriefkasten. Ist das eigentlich der Fingerabdruck des Chefs im Logo, oder nur irgendein Fingerabdruck?
Der Wind weht. Spiegelnde Pfützen, Schottersteine; hingeschmissenes Holz, damit man keine nassen Füße bekommt. Da steht man herum mit all seinem Innenleben.
Auf dem Rückweg glaube ich seltsame Vibrationen an meiner Vorderachse wahrzunehmen und drehe die Musik lauter. Im Radio läuft Elton John. Elton John tut wenigstens nie weh, sagt der beste Mitbewohner der Welt.
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