Zwischen zwei Ewigkeiten bei Poetry.de

Monty Schwarz · 18.09.2007, 22:23

Ich fuhr mit dem Zug nach Marburg. Ein Schaffner trat in mein Abteil. Er sah mich überrascht an und machte den Anschein, als frage er sich, ob ich ihm etwas sagen möchte. Als ich es nicht tat, murmelte er nur „Guten Abend“ und ging wieder.
Es lag noch eine halbe Stunde Fahrt vor mir. Ich schaute nach draußen und fragte mich, wie es wohl sei in einem der Dörfer zu wohnen, die namenlos an mir vorbeifuhren. Unvermittelt knackte der Lautsprecher.
„Da ist etwas in meinem Kopf.“
Danach wieder nur das Rattern der Räder. Ich hörte den Worten des Zugführers oder des Schaffners oder wessen auch immer, hinterher. Doch so sehr ich sie drehte, entzerrte oder ihre Reime ausprobierte, der Inhalt blieb derselbe.
„Da ist etwas in meinem Kopf.“
Abermals. Doch nun klingt die Stimme ein bisschen weniger überzeugt. Ich trete näher an den Lautsprecher heran, der sonst nur mitzuteilen hat, welche Haltestelle angefahren wird und wo auszusteigen ist.
„Etwas füllt mich aus mir heraus.“
Ich verlasse mein Abteil und gehe zum Zuganfang. Ich durchquere zwei leere Abteile, dann eins in dem eine Frau sitzt. Sie sieht jung aus, vielleicht Anfang zwanzig, ist aber altmodisch angezogen. Auf ihren Knien hält sie einen Geigenkasten. Sie schaut müde zu Boden.
Ich gehe weiter und wieder öffnen sich zwei leere Abteile. Danach kommt eins in dem jemand sitzt. Und zwar jemand, der der Frau aufs Haar gleicht - inklusive Geigenkasten und müdem Blick. Ich wundere mich, gehe weiter, Abteil folgt auf Abteil und in jedem dritten sitzt die Frau und schaut zu Boden.
„Ich verstehe“, sage ich schließlich und denke an den unendlich langen Zug, „Wenn ich weiter gehe, werde ich alle paar Wagen Ihnen begegnen. Sechzig Jahre Leben als Test. Was folgt, hört niemals auf. So fühlt es sich also an.“
Die Frau schaut auf: „Vielleicht gibt es doch einen Ausweg.“ Ihre Augen sind matt, vielleicht ist sie blind.

18.09.2007, 22:23	#1
Monty Schwarz Dabei seit: 03/2006 Beiträge: 84	Zwischen zwei Ewigkeiten Ich fuhr mit dem Zug nach Marburg. Ein Schaffner trat in mein Abteil. Er sah mich überrascht an und machte den Anschein, als frage er sich, ob ich ihm etwas sagen möchte. Als ich es nicht tat, murmelte er nur „Guten Abend“ und ging wieder. Es lag noch eine halbe Stunde Fahrt vor mir. Ich schaute nach draußen und fragte mich, wie es wohl sei in einem der Dörfer zu wohnen, die namenlos an mir vorbeifuhren. Unvermittelt knackte der Lautsprecher. „Da ist etwas in meinem Kopf.“ Danach wieder nur das Rattern der Räder. Ich hörte den Worten des Zugführers oder des Schaffners oder wessen auch immer, hinterher. Doch so sehr ich sie drehte, entzerrte oder ihre Reime ausprobierte, der Inhalt blieb derselbe. „Da ist etwas in meinem Kopf.“ Abermals. Doch nun klingt die Stimme ein bisschen weniger überzeugt. Ich trete näher an den Lautsprecher heran, der sonst nur mitzuteilen hat, welche Haltestelle angefahren wird und wo auszusteigen ist. „Etwas füllt mich aus mir heraus.“ Ich verlasse mein Abteil und gehe zum Zuganfang. Ich durchquere zwei leere Abteile, dann eins in dem eine Frau sitzt. Sie sieht jung aus, vielleicht Anfang zwanzig, ist aber altmodisch angezogen. Auf ihren Knien hält sie einen Geigenkasten. Sie schaut müde zu Boden. Ich gehe weiter und wieder öffnen sich zwei leere Abteile. Danach kommt eins in dem jemand sitzt. Und zwar jemand, der der Frau aufs Haar gleicht - inklusive Geigenkasten und müdem Blick. Ich wundere mich, gehe weiter, Abteil folgt auf Abteil und in jedem dritten sitzt die Frau und schaut zu Boden. „Ich verstehe“, sage ich schließlich und denke an den unendlich langen Zug, „Wenn ich weiter gehe, werde ich alle paar Wagen Ihnen begegnen. Sechzig Jahre Leben als Test. Was folgt, hört niemals auf. So fühlt es sich also an.“ Die Frau schaut auf: „Vielleicht gibt es doch einen Ausweg.“ Ihre Augen sind matt, vielleicht ist sie blind.