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23.01.2012, 20:31 | #1 |
Im Brauhaus (Teil I)
Als ich ins Brauhaus kam, sog ich mit einem Mal so viele "urdeutsche" Traditionen auf, dass ich einen Kulturschock bekam: Bier, Stammtischgespräche über "die da oben" und natürlich Fußball im Fernsehen, denn es war Rückrundenstart. Ein paar Meter gegenüber des Eingangs saß Anatoliy, mein guter, alter Freund aus Schultagen an einem kleinen Holztisch in einer gemütlichen Ecke. Wir umarmten uns zur Begrüßung, wie es sich für echte Freunde gehört und setzten uns an den Tisch. Ich legte meinen Schal ab und streifte mir mit bedeutungsschwerer Mimik durch das Haar, denn es war Wochenende - Zeit für mich, der Unterordnung unter stupide Sachzwänge zu entkommen und der Welt zu zeigen, dass da immer noch ein freies, stolzes, selbstbewusstes Subjekt nach eigenen Regeln wirkt.
Die junge, hübsche Kellnerin kam recht bald und wir bestellten einen Rotwein. Da ich immer noch dabei war, die Speisekarte zu studieren, fragte sie höflich, ob ich auch etwas essen wolle. Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen meinte ich lässig: "Ich bin noch am Überlegen, aber ich freue mich gewiss, wenn du wieder kommst!". Fortan hat uns die weitaus ältere, hässlichere Kollegin bedient. Ich glaube, in dem Maße, in dem man an Lebenserfahrung gewinnt, büßt man an Charme ein. Aber sei es drum! Dieser Abend sollte ein Abend zweier Freunde werden; da sind alle Anderen nur Statisten. Ich wandte nach einem letzten Linsen in Richtung der hübschen Kellnerin meinen Blick wieder Anatoliy zu. Obwohl wir uns seit Monaten nicht mehr gesehen haben, kamen wir sofort ins Gespräch. Zunächst tauschten wir alte Annekdoten aus, die uns natürlich Beiden längst bekannt waren, aber darum waren sie lange nicht uninteressant. Jedoch ist mir klar geworden, dass die Tatsache, beste Freunde in einer anderen Stadt zu haben, dazu verleitet, in der Vergangenheit zu leben. Vielleicht sollte ich mir neue Freunde suchen. Nicht, dass ich meine alten Freunde aufgeben sollte. Aber vielleicht ist es an der Zeit, mein Freundearsenal aufzufüllen. Ich sollte mir Freunde suchen, mit denen ich neue Geschichten schreiben kann, statt immer wieder die altbekannten zu erzählen. Allerdings bin ich nicht der Typ, der sich schnell Freunde macht, weil ich Menschen im Allgemeinen nicht besonders mag. Also beschloss ich in diesem Augenblick, eben heute und an dieser Stelle neue Geschichten zu schreiben. Dazu brauche ich keine neuen Menschen, nur etwas Rotwein und Fantasie. Und ich wusste, um wirklich nachhaltig interessante Geschichten zu schreiben, würde ich peinliche Dinge machen müssen. Den Mut dazu gab mir jedenfalls die Gewissheit, dass egal, was ich tue, mir diese Gesellschaft sehr viel peinlicher ist, als ich ihr. Als wir bei dem Thema "Literatur" angelangt waren, rezitierte ich mit lauter Stimme mein jüngstes Gedicht: "Ich will nächtens mit dem Teufel tanzen, weil die schwarze Neugier mich zerfrisst. Ich möchte Menschen kreuzen mit Schimpansen, um zu zeigen, dass es möglich ist. Ich will Hirne fressen, Jungfern schänden, denn man sollte es gewiss probieren. Ich will das frische Blut an meinen Händen an die schicken Hausfassaden schmieren." Ich vernahm, dass während meines Vortrages das verbale Durcheinander im Lokal immer mehr verstummte, bis mein kleines Gedicht schließlich das Einzige war, das man noch hören konnte. Ich trug das Gedicht mit wirrem Blick und drohenden Gesten vor und am Ende applaudierte die ganze Kneipe. Zwar bin ich ein eitler Mann, aber ich konnte einfach nicht davon ausgehen, dass in diesem Milieu überhaupt jemand zu finden ist, der mein Werk verstanden hat; also war ich über den Applaus sehr erbost: "Spart euch euren Verlegenheits-Beifall, ihr Einfältigen! Gebt mir lieber einen Wein aus!" Eine herrlich unangenehme Stimmung breitete sich im Raum aus und mein Freund war sichtlich amüsiert über meinen Auftritt. Als mein Blick umherstreifte, um all die Gesichtsausdrücke des Entsetzens und der Entwürdigung zu erfassen, bemerkte ich zwei sehr ansehnliche Mädchen am Nachbartisch. Ihr Klatschen zu einer frommen Geste des Gebets eingefroren wirkte als reizvoller Kontrast zu ihren gar nicht so frommen Dekolletés. Also sprach ich sie an: "Ihr seid nicht einfältig. Ihr seid hübsch!" Plötzlich tauchte ein Lächeln in ihren Gesichtern auf, das ihre Erleichterung und ihr Gefühl, akzeptiert zu werden besser zum Ausdruck brachte, als sie es mit ihrem (zunächst vermutet, aber im Laufe des Abends immer mehr bestätigt) kümmerlichen Wortschatz hätten erwirken können. ... |
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23.01.2012, 20:42 | #2 |
abgemeldet
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Ein schöner Text, Schmuddel.
Ich denke, du hast dein Gedicht tatsächlich laut in der Kneipe rezitiert und das finde ich sehr cool Liebe Grüße Peace |
23.01.2012, 21:42 | #3 | |
Zitat:
Aber sonst hab ich Gott sei dank nicht so viel mit dem Erzähler gemeinsam. Schön, dass dir der erste Teil dieser Geschichte gefällt. Mal sehen, was mir noch so zum zweiten Teil einfällt. Fürchte allerdings, dass ich eher ein Lyriker bin und dass ich in dieser Eigenschaft auch meine Prosa-Texte schreibe. LG |
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23.01.2012, 22:07 | #4 |
abgemeldet
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Keine Sorge, Schmuddel, anhand des Stils deines Textes kann ich sagen, dass du es auch bei Prosa-Texten drauf hast!
Write on, Kollege |
23.01.2012, 22:10 | #5 |
Oh, vielen Dank!
Na ja, mal sehen, hab jedenfalls noch nicht so viel Erfahrung mit Prosa-Texten. |
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24.01.2012, 16:06 | #6 |
Ich fand insbesondere die Zeichnung der Nebenfiguren interessant.
Ob ich es wagen würde, ein Gedicht oder einen Textfetzen in einer öffentlichen Einrichtung darzubieten? Ich glaube nicht... Deswegen, wie Peace sagte, Thumbs Up. Ich bin gespannt wie es weitergeht. See auch Potential für einen Kurzsketch oder so was. Und die Integrations-Anspielung am Anfang, hahaha, hat mich zum Lachen gebracht. Grützi, Aya. |
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25.01.2012, 12:52 | #7 | |
Ja, wobei die Zeichnung der Nebenfiguren natürlich mehr über den Erzähler verrät, als über die Figuren.
Zitat:
LG |
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