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19.10.2019, 18:11 | #1 |
Dabei seit: 10/2019
Ort: Deutschland
Alter: 23
Beiträge: 1
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Das Stofftier
Es ist bereits gegen Nachmittag, Anfang Herbst. Bruder und Schwester, schon beide Erwachsen,
besuchen bald die Großmutter. Die Großmutter ist vielleicht allein zuhause. Der Mann ist oft bis spät am Abend beim Arbeiten. Sie würden beide in zwei Wochen verreisen, nach Australien soll es gehen. Dort, wo sich die jüngste Tochter befindet. Dort auch, wo sich die Enkel und der Schwiegersohn befinden. Ein letztes Mal für eine längere Zeit würden die Enkel sie noch sehen, bevor die lange Reise im Flugzeug beginnen würde. Sie wollen backen, beschlossen sie in einem Telefonat wenige Stunden zuvor und sie würden backen. Eine Art dicke Plätzchen, die in Metallformen gebacken werden, anschließend in einer Mixtur von Puderzucker und normalem Zucker gewälzt werden. In ihnen, eine Menge selbstgepflückter Walnüsse. Die Großmutter darf nur Walnüsse essen, keine anderen. Bruder und Schwester haben endlich Wochenende. Genug Zeit, um Zeit vertreiben zu können. Keine Verpflichtungen. Keine Termine. Keine Versprechen. Nur der eine letzte Besuch, für eine längere Zeit. Noch sind sie Zuhause. Bruder gerade von der Schule, etwas essen, fertigmachen. Schwester schon bereit. Sie fahren los, etwa nach zehn Minuten auch schon da. Sie klingeln an einem der vielen Klingeln neben der Tür, über den Briefkästen. Alle beschriftet, manche komischer als andere. Eine Stimme spricht Hallo. Die Stimme ist verzerrt, mit schlechter Qualität, wie man es von diesen Sprechanlagen gewohnt ist. Ob es die richtige Klingel war, ist an der verzerrten Stimme nicht zu erkennen. Sie erwidern mit einem fröhlichen Hallo. Das Geräusch, wie der Hörer wieder aufgehängt wird ertönt. Dabei das laute kratzige Geräusch, dass die Tür öffnet. Beim hindurchlaufen ist es ohrenbetäubend laut. Bruder hält sich das Ohr zu. Der Eingangsbereich, mit Lift, Treppe und einigen Wohnungen voraus, separiert mit einer offenen gewellten Glastür. Zwei Stockwerke höher, die Tür steht wohl schon offen. Niemand erwartet sie an der Tür. Sie gehen etwas erschöpft vom Treppenlaufen durch die Tür. Der Flur dunkel. Niemand bemerkt sie. Die Schuhe werden ausgezogen, der Gang wird hinuntergegangen. Im Wohnzimmer sitzen die Großmutter am Handy und der Großvater läuft an ihnen vorbei, bemerkt sie nicht. Die Sicht schon schlecht vom Alter. Stille herrscht. Nach einiger Zeit werden sie bemerkt. Eine freundliche Begrüßung des Großvaters, später von der Großmutter. Die Großmutter verschwindet kurz in der Küche, während Bruder und Schwester nebeneinander auf dem Sofa sitzen und auf etwas warten. Sie warten, dass etwas passiert. Es regnet plötzlich stark, aber nur kurz. Währenddessen knackt der Großvater im Sessel, wo er immer sitzt, Wahlnüsse, denn andere Nüsse gibt es hier nicht. Immer Walnüsse. Jedes Mal werden sie geknackt, gegessen und die Schalenreste in einer extra Schüssel gesammelt. Flüchtige Gespräche. Wie die Schule läuft, die der Tag war. Im Endeffekt kein Informationsaustausch. Nichts Neues, nichts Spannendes. Der Großvater verlässt irgendwann die Wohnung. Wer weiß wo hin? Obwohl er es gesagt hatte. Weiterhin Stille. Der Bruder und die Schwester vertreiben die Zeit, indem sie ein Stofftier, eine Banane, gegenseitig zuwerfen. Jedes Mal wird sie geworfen, aufgehoben und mit ihr gespielt. Dann passiert es endlich. Sie beginnen zu backen. Der Teig ist schon vorbereitet. Er muss nur in die Formen gedrückt werden. Sie werden gebacken und danach in der Zuckermischung gewälzt. Obwohl die Metallformen frisch aus dem Ofen kamen und noch sehr heiß sind, spürt die Großmutter nichts. Mit ihren Fingern klopft sie alle Gebäcke aus ihren Formen mit einem Schlag auf das Blech. Ein rhythmisches Geräusch entsteht. Bruder und Schwester behaupten, es sei ihre zweite Superkraft. Die erste ist ein Insider-Witz. Gelächter prägt den sonst so faden Raum, der mit allen möglichen neuen Technologien und einem Dutzend von Pflanzen dekoriert ist. Irgendwann, während das Gebäck in der Küche, im Backofen vor sich hin backt, erzählt die Großmutter ihre Kindheit. Wie sie damals von ihren Familienmitgliedern unterdrückt wurde, wie sie den Haushalt führte, wie sie den Stall säuberte und wie sie über die Tiere wachte. Eine Geschichte, die in der heutigen Zeit kaum noch Bezug findet. Sie erzählt, wie sie rebellierte, wie sie es ihnen zeigte, wie sie es schaffte sich in der Welt ohne die hinterlistigen Menschen in der Heimat zurechtzufinden. Bruder und Schwester hören zu, sagen nichts. Ihre Bewunderung behalten sie für sich, aber wird doch ausgestrahlt. Ein wenig Dankbarkeit mischt sich dazu. Das Gebäck wohl schon dunkel, aber sie geraten in Vergessenheit. Irgendwann werden sie doch rausgeholt. Bruder und Schwester klopfen nun auch die Formen aus. Ein wenig manchmal verbrennen sie sich, aber es ist leichter, als sie dachten. „Wollt ihr Pfannenkuchen essen, ihr habt doch schon lange nichts mehr gegessen.“ fragt die Großmutter. Die Enkel bejahen und einige Zeit später, ohne dass sie etwas von der Zubereitung bemerkten, steht der Teig neben dem Herd. Das Öl wird in der Pfanne heiß. Die Geschichten werden weitererzählt. Das Öl in der Pfanne wird zu heiß, ein starker Geruch wird bemerkbar und der Raum wird neblig. Das Öl schreit nach Aufmerksamkeit, die es auch bekommt. Die Pfannenkuchen werden im Hintergrund, hinter der Tür der Küche zubereitet. Einige verbrennen, weil sie in Vergessenheit geraten, andere nicht, denn noch immer werden Geschichten erzählt. Die Enkel sagen nichts, sie strahlen nur Bewunderung und Dankbarkeit aus. Die ersten werden auf die Teller gebracht, vor dem Bruder und vor der Schwester. Die Menge an Zucker wird von der Schwester kritisiert, würde aber selbst eine solche Menge auftragen. Es wird gegessen, nur die Großmutter isst nicht. Sie erzählt Geschichten. Sie ist Feuer und Flamme. Sie ist stolz auf ihre Taten. Es wurde gegessen. Alle sitzen wieder auf dem Sofa. Wieder werden sich der Bruder und die Schwester das Stofftier zu. Die Großmutter sitzt am anderen Ende und sieht in ihr Handy. Das Spielen wird kommentiert. Irgendwann wird auch der Großmutter zugeworfen. Sie haben alle Spaß. Die Großmutter erzählt, wie sie von ihrem Geburtsdatum erfuhr. Sie hat am Schaltjahr Geburtstag und war überrascht, dass sie nur alle vier Jahre Geburtstag hätte, wie die Sekretärin in der Behörde es erzählte, als sie noch jung war, aber schon geheiratet hatte. Lautes Gelächter erhellt wieder den trüben, langweiligen Raum. Die Großmutter tränt. Ob es Freudentränen sind, weiß keiner. Der Großvater kommt nach Hause. Die Großmutter kocht Essen für ihn, behauptet es nicht früher erledigt zu haben, da sie mit dem Stofftier spielte. Gelächter. Die Enkel verabschieden sich freundlich, nehmen das Gebäck mit, gehen nach Hause, in der Nacht. Eine Kurzgeschichte von Filip Herceg. |