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Düstere Welten und Abgründiges Gedichte über düstere Welten, dunkle und abgründige Gedanken.

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Alt 08.09.2008, 22:03   #1
weiblich schreibhexe
 
Benutzerbild von schreibhexe
 
Dabei seit: 09/2008
Ort: Bochum
Alter: 69
Beiträge: 29

Standard Moderne Zeiten

Durch die Straßen, durch Getümmel
Hetzte ich von Ort zu Ort
Über mir der graue Himmel
Neben mir kein gutes Wort.

Menschenhast und Menschenwandern
Steuern Ströme hin und her
Renne mit mit all den Andern
Werd' zum Fisch im Menschenmeer

Marktgeschrei und Dissonanzen -
Angst beherrscht die Szenerie
Ums gold'ne Kalb wir alle tanzen
Innehalten tun wir nie.

Im eig'nen Film mit Tunnelblick
Sieht jeder sich nur selbst allein
Vom Brot zu jagen sich ein Stück
Der Nachbar passt da nicht hinein.

Viele schreien: Ich, ich ich
Ich will mich amüsieren!
Schließlich geht's allein um mich!
Und wir Menschen frieren.

Traben stumpf und zugedröhnt
Blind und taub durchs große Leben
Dem Schauen, Fühlen ganz entwöhnt
Hart geworden, ohne Streben

Seh'n wir nicht der Schöpfung Pracht
Nicht, wie Alles webt und keimt,
Fühlen nicht der Liebe Macht
Hören nicht das Kind, das weint.
schreibhexe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.09.2008, 23:28   #2
blaue_Raupe
 
Dabei seit: 08/2007
Beiträge: 82

Hi schreibhexe.


Es gibt zwar ein paar kleinere Aspekte, die ich unter „modernere“ Zeiten einzuordnen vermag, insgesamt spricht mich das Gedicht allerdings nicht an. Gut zu lesen mag es sein, konsequent umgesetzt kann ich’s nennen, aber die Sicht und die Schlussfolgerungen kann ich meist nicht recht teilen.
Das grob Verallgemeinernde, wenn auch als Sicht eines Einzelnen markiert in dessen Empfinden, spricht mich, wenn es eine große Ebene abdecken soll, aber ohnehin selten an (zumal, wenn ungebrochen und nicht gegengewichtet).
Ich picke mal ein paar Aspekte raus, um zu zeigen, warum’s nicht zur Begeisterung hinreißt.

2.)
Menschenhast und Menschenwandern
Steuern Ströme hin und her
Renne mit mit all den Andern
Werd' zum Fisch im Menschenmeer
~
Okay, hier entdecke ich zumindest das Gedränge, das mancherorts herrscht, eine gefühlte Enge, die Austauschbarkeit eines jeden, nicht erst durch Ableben, sondern bereits zu Lebzeiten. Soweit aber nicht so spannend oder erhellend.

3.)
Ums gold'ne Kalb wir alle tanzen
Innehalten tun wir nie.

4.)
Im eig'nen Film mit Tunnelblick
Sieht jeder sich nur selbst allein
~
Hier habe ich etwas verkürzt, wenn ich auch die Ängste gern noch herinnen hätte. Aber das geht ja auch so. Es stößt mir schon sauer auf, dass das Gesamte sehr pauschalisierend rüberkommt, wie im „Innehalten tun wir nie“. Sicherlich, man kann nicht alle Lebensfacetten in einem Textlein unterbringen, aber viele Aspekte ins Schwarze herunter abzuhandeln, bietet eben auch nicht so sonderlich viel.
Ängste, ob davor, dass das Mammut die Höhle verwüstet oder Schmock Keulenträger aus den Bergen das schönst zu besitzende Wildschwein-Prunkfell zum Höhelnfrauen-Aufreißen stiehlt ... ich weiß nicht, ob ich' werten oder stufen kann.
Sicherlich gibt es Tendenzen bereits im Rahmen von Individualisierungsprozessen, nicht seit gestern, aber was mir fehlt, ist definitiv der Schwenk aus dem schwarz-weißen, den man hier wie so oft angeboten bekommt. Auf der kleineren Ebene gäb’s den zu begucken …

Viele schreien: Ich, ich ich
Ich will mich amüsieren!
Schließlich geht's allein um mich!
Und wir Menschen frieren.
~
Ja, es gilt auch für diese Strophe. Mag sein, dass bestimmte „Symptome“, Störungs- und Verhaltensweisen besonders in einer bestimmten Zeit des Erdenalters auftreten, aber dann wäre es wünschenswert, einige auch genauer aufzublättern & zu beleuchten. So, wie es bisher
dort steht, kann ich mich nicht dahinter stellen.
„Viele“, wie du schreibst, versuchen auch, anderen möglichen Werten bestmöglich gerecht zu werden im Rahmen des Heutes, in dem wir eben sitzen. Wenn ich an Gespräche unter Freundinnen zurückdenke, da war’n wir so 14, 15, ertönte immer wieder (von einzelnen), nein, Kinder will ich nie, nie Kinder, kann ich mir gar nicht für mein Leben vorstellen. Wo ich ihnen damals als Geschenke Bücher, Gläser etc. noch überreicht habe, räume ich heute vor dem Büchergucken auf Amazon erstmal 17 Kilo Fläschchenset, Marionetten aus buntem Holz mit Glöckchen, Tast- und Farbspiele mit beiden Armen aus den Empfehlungen, bis es soweit ist. (Und die Neumenschen, die bisher gewürfelt wurden, haben verdammt Schwein gehabt mit dem, wohin sie gewürfelt wurden.)

Heißt nach dem kurzen Exkurs: es tönt mir einfach an allen Ecken zu einseitig, als dass es gut gefallen könnte.

Nichts für ungut,

VG
r~~~
blaue_Raupe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.11.2010, 14:56   #3
weiblich schreibhexe
 
Benutzerbild von schreibhexe
 
Dabei seit: 09/2008
Ort: Bochum
Alter: 69
Beiträge: 29

Liebe blaue Raupe,

ich war sehr lange nicht mehr auf diesem Forum. Daher habe ich erst heute Deine sehr ausführliche Stellungnahme zu meinem Gedicht gelesen.

es ist schwierig für mich, darauf zu antworten. Du beurteilst das Gedicht aus einer völlig anderen Perspektive als ich es gemeint habe.

Ich habe versucht, die Kälte und das Verlorensein des Individuums in der Masse, die Allgegenwart von Einsamkeit, Gleichgültigkeit, Kokurrenz, Egoismus: "Ich, ich, ich will mich amüsieren, schließlich gehts allein um mich", das in sich Abgeschlossensein: "Traben stumpf und zugedröhnt, blind und taub durchs große Leben" darzustellen, wobei das wirklich Wichtige: "das große Leben" unbemerkt an uns vorbeizieht und die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt: "Hören nicht das Kind, das weint".

Ich habe dieses Gedicht geschrieben unter dem Eindruck von eigenem Erleben und immer neuen Berichten in der Presse von Grausamkeiten Jugendlicher unter Drogen- und Alkoholeinfluss, von immer neuen Berichten über Kindermorden, Misshandlungen und Vernachlässigungen von Kindern, unter dem Eindruck von Einsamkeit, Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit.
Dass das alles Ängste erzeugt, ist völlig klar. Aber muss das denn noch ausdrücklich erwähnt werden? Eine der wichtigsten Schreibregeln lautet: "Do show, do not tell."

Das alles sind keine angenehmen Gefühle. Deshalb wundert es mich nicht, dass dir das Gedicht nicht gefällt. Es erzeugt Abwehr und Widerspruch. Ich kann das verstehen. Doch die Realität, besonders in den Städten, ist leider so.

Vielleicht gefallen Dir ja andere Gedichte von mir. Lass es mich wissen.

LG
Renate
schreibhexe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.11.2010, 02:59   #4
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
Beiträge: 31.118

Zitat:
Das alles sind keine angenehmen Gefühle. Deshalb wundert es mich nicht, dass dir das Gedicht nicht gefällt. Es erzeugt Abwehr und Widerspruch. Ich kann das verstehen. Doch die Realität, besonders in den Städten, ist leider so.
Das Gedicht liest sich gut, ist es sauber und flüssig geschrieben. Jedoch stört mich die Einseitigkeit der Aussage. Alles, was darin steht, ist nicht "modern", sondern Menschen waren von jeher selbstbezogen; geändert haben sich nur die Methoden im Sinne von Anpassunsprozessen.

Daß diese Realität "besonders in den Städten" zu finden ist, halte ich für ein grobes Vorurteil. Das Gegenteil ist der Fall: Auf dem "Lande" geht es rigoroser und viel weniger liberal zu als in den Städten; auch ist die Kriminalität außerhalb der Städte keineswegs geringer, die Fälle sind lediglich sperriger und bedürfen einer intensiveren Aufklärungsarbeit. Wer heute in "Kleinkleckersdorf" wohnt, kann genauso anonym bleiben, als lebte er in einer Millionenstadt.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.11.2010, 03:42   #5
männlich Bullet
abgemeldet
 
Dabei seit: 07/2009
Beiträge: 499

Zitat:
Zitat von schreibhexe Beitrag anzeigen
Ich habe versucht, die Kälte und das Verlorensein des Individuums in der Masse, die Allgegenwart von Einsamkeit, Gleichgültigkeit, Kokurrenz, Egoismus: "Ich, ich, ich will mich amüsieren, schließlich gehts allein um mich", das in sich Abgeschlossensein: "Traben stumpf und zugedröhnt, blind und taub durchs große Leben" darzustellen, wobei das wirklich Wichtige: "das große Leben" unbemerkt an uns vorbeizieht und die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt:
Liebe Schreibhexe. Der Versuch ist aller Ehren wert. Aber warum schreibst du dann nicht auch so? Form follows Function! Ist ein gleichmäßiges, klassisches Reimschema das richtige Mittel um diese gesellschaftlichen Störungen anzuprangern oder darzustellen? Du kennst die Antwort.

LG
Bullet
Bullet ist offline   Mit Zitat antworten
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