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Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten.

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Alt 15.08.2022, 16:07   #1
männlich Amerdi
 
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Dabei seit: 03/2012
Alter: 34
Beiträge: 206

Standard Er stand am Kai und schaute nach den Schiffen

Er stand am Kai und schaute nach den Schiffen,
derweil ihm kühle Winde um die Ohren pfiffen
und jede Brise füllte seine Brust
mit Luft voll Salz und süßer Reiselust.
Wie groß die Schiffe waren und wie klein war er...
wie klein die Schiffe waren und wie groß das Meer!
Wie nah die Ferne rückt, wenn man am Hafen steht
und Meerluft einem brausend durch die Haare weht,
man nur noch spürt und späht,
der Seewind einem Sehnsucht in die Seele sät.
Sein Auge balancierte auf gespannten Trossen,
erkletterte geschwind der Lotsenleitern Sprossen
und schaute ganz verschossen auf das schönste Schiff,
das mit den weißen Segeln nach dem Seewind griff;
und dann erklomm sein junger Blick die hohen Masten,
die in den weiten, wolkenlosen Himmel fassten.
Ein Bugspriet schien, als riete er zum Reisen,
als Zeigefinger auf das Meer zu weisen,
wie auf den Kern des Unbekannten.
Und wenn er sah wie sich die Segel spannten,
dann wurden seine Muskeln davon angesteckt
und Tatendrang und Wagemut in ihm geweckt!
Er wollte dann an Bord des ersten Schiffes springen,
und geradewegs den fernsten Horizont bezwingen!
Dann wollte er sich standhaft gegen Stürme stemmen,
den Himmel streifen auf den höchsten Wellenkämmen,
er wollte ringen mit dem Zorn der Ozeane
und kämpfen gegen kataklystische Orkane!
Er träumte von noch nie befahrnen, fernen Routen
und spürte flammendjunges Blut sein Fleisch durchfluten.
Er sah ein Pärchen mit Gepäck sich sputen
(noch drei Minuten!)
und Angler träge Wellen peitschen mit den Ruten
und Schnäbel, die sich um verstreuten Strandmüll stritten
und Fische, die durch blaues, grünes Glitzern glitten.
Da waren laute Fischverkäufer, Zeitungsstände
und Menschen küssten sich und reichten sich die Hände;
und fremde Sprachen sprangen von den Landungsstegen
und sprudelten geschäftig ihm entgegen;
mit Staub aus weltverstreuten Straßen an den Schuhen.
Matrosen trugen große Truhen
worin Gewürze waren, vielleicht Schätze!
Und Möwen kreisten um gefüllte Netze,
so wie der Mann am Kai, obgleich er nie verreiste,
mit seinem ganzen Leben um den Hafen kreiste.
Auch heute steht er noch am Meer mit grauen Haaren
und sucht am Horizont nach den verlornen Jahren.
Amerdi ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.08.2022, 16:23   #2
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.878

Hallo Amerdi,
das ist sprach-/wortgewandt und allein schon deshalb lobenswert. Manchmal artet es in Wortgeklingel und recht banale Reimkunst aus. Insgesamt hebt sich Dein Gedicht von vielen Veröffentlichungen (positiv) ab.
Gruß,
Heinz
Heinz ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 15.08.2022, 16:43   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.687

Hallo Amerdi,

einfach nur: wow! Du zauberst mit den Versen.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.08.2022, 22:36   #4
Ex-Pennywise
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2020
Beiträge: 599

Moin Amerdi,

auch mir gefällt das. Und als uneheliches Kind des Nordens sowieso.
Aber ich habe bei aller Sprachgewandtheit, die Du zweifelsfrei hast, einen Kritikpunkt. Ich hätte es etwas kürzer werden lassen. Die Geschichte und auch die Message am Ende sind toll. Aber der Weg dahin ist doch etwas lang für meinen Geschmack. Aber umgesetzt hast Du es wirklich gut. Bin mal gespannt, was da noch so kommt. Wobei ich gerade sehe, dass Du schon sehr lange dabei bist und einiges geschrieben hast. Somit werde ich dann bei Zeiten mal stöbern.

Gruß

Pennywise
Ex-Pennywise ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.08.2022, 09:49   #5
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City, auf der richtigen Seite des Mains
Beiträge: 31.038

Tolles Werk, rundum gelungen!
Das Thema ist nicht neu und wurde auch unter Einbeziehung modernerer Reisemittel bearbeitet, z.B. als Film unter dem Titel "The Man Who Watched the Trains Go By" (mit Claude Rains) nach einer Erzählung von Georges Simenon.

Metapher für ein ungelebtes Leben. Super gemacht!
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.08.2022, 17:13   #6
männlich Amerdi
 
Benutzerbild von Amerdi
 
Dabei seit: 03/2012
Alter: 34
Beiträge: 206

Heinz:
Für mich ist Lyrik hauptsächlich das Spiel mit Sprache, Klang, Bildern. Dabei lasse ich mich bestimmt manchmal von banalem aber klangschönem Geklingel verführen (ich versuche, es zu vermeiden!)
Jedenfalls freut es mich, dass es nicht immer schief geht und dir diese Spielerei insgesamt zugesagt hat.

Silbermöwe:
Ich bin beglückt, dass es dir so gefällt.

Pennywise:
Ich hab auch das Gefühl, dass dem Gedicht ein paar Kürzungen gut täten (oder die Ersetzung einiger Verse durch bessere). Vielleicht setze ich mich irgendwann nochmal dran und schaue, was sich machen lässt. Im Moment bin ich aber fertig damit.
Wenn du in meinen Gedichten und Geschichten herumsuchst wirst du eine menge Quatsch finden haha.

Ilka-Maria:
Schön, dass es dir gefällt.
Hast du die Simenonerzählung gelesen? Überlege schon länger sie mal zur Hand zu nehmen.
Amerdi ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.08.2022, 17:20   #7
männlich Ex-petrucci
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2021
Beiträge: 414

Sehr schön, lässt sich wunderbar lesen, Amerdi!
Ex-petrucci ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.08.2022, 17:52   #8
männlich Nöck
 
Benutzerbild von Nöck
 
Dabei seit: 12/2009
Ort: In den Auen des Niederrheins
Beiträge: 2.662

Hei Amerdi,

Zitat:
Zitat von Heinz
das ist sprach-/wortgewandt
... und fesselnd, trotz der Länge.

Die Schlussverse haben mir besonders gut gefallen, bravo!

Liebe Grüße
Nöck
Nöck ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.08.2022, 17:56   #9
männlich MonoTon
 
Benutzerbild von MonoTon
 
Dabei seit: 04/2021
Beiträge: 1.102

Mich freut es immer wenn ich Dichter aktiv schreiben sehe, die seit längerem eher fern geblieben sind, man könnte sich nun wundern was der Grund ist, aber wie gut dass man sich nicht wundern sondern einfach nur an schönen Texten erfreuen kann.

Ich unterstütze die Idee, das man das ganze etwas kürzer fassen könnte, nichts desto trotz hat es einen schönen Sprachfluss und eine unbefangene Melancholie die melodisch in den Zeilen mitschwingt.

mein einziger Kritikpunkt wäre, weniger eine Kritik, vielmehr eine Frage.
Der ganze Text besteht aus Paarreimen, war der Haufenreim hier ein versehen?

Zitat:
Er träumte von noch nie befahrnen, fernen Routen
und spürte flammendjunges Blut sein Fleisch durchfluten.
Er sah ein Pärchen mit Gepäck sich sputen
(noch drei Minuten!)
und Angler träge Wellen peitschen mit den Ruten
Oder ergab er sich einfach aus dem "Flow" heraus durch die plötzliche Alliteration und dem Binnenreim "Blut-flut"?

Zitat:
und spürte flammendjunges Blut sein Fleisch durchfluten.
Ich weiß, der Umlaut "ü" ist nicht ganz in der Alliteration, aber er ordnet sich dem "u" unter. Im Allgemeinen herrschen im Text viele u/ü- und a/ä-Laute vor. Was einen angenehmen weichen Sprachgebrauch hervorruft und keine scharfen oder harten Lautmalungen aufkommen lässt.
Wie schön das jemand mit einem derartigen Sprachgefühl nach Hause gefunden hat.

Gerne gelesen.
MonoTon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.08.2022, 09:47   #10
weiblich Donna
 
Dabei seit: 02/2020
Beiträge: 406

Hi Amerdi,

deine Gedicht konnte mich gut auf diese Gedankenreise mitnehmen, habe gerne mitgeträumt.

drei kleine Anmerkungen,
Z 18 mit Zeigefinger klänge für mich runder - um das "als" nicht zu wiederholen.
Die Häufung von Sputen, Routen, Ruten, drei Minuten war fast schon zuviel des Guten.
Eine Stropheneinteilung ist für mein Auge gefälliger.
lG, Donna
Donna ist offline   Mit Zitat antworten
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