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Alt 30.06.2022, 15:37   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Omas Geheimnis

Oma stammte aus dem tiefsten Bayern, aus einem Dorf nahe der tschechischen Grenze. Eigentlich eher ein Marktflecken mit nicht mehr als einigen hundert erzkatholischen Einwohnern und einem Dorfplatz am Fuße der Barockkirche.

Als sie fünfzehn wurde, brach der erste Weltkrieg aus, aber davon bekam sie nichts mit. Gravierender war, dass sie Vollwaise wurde und, da ihre verstorbenen Eltern keine Besitztümer hatten, im Dorf jede Lebensgrundlage verloren hatte.

Sie folgte ihrem älteren Bruder nach Hessen in eine Stadt, die noch Kleinstadt, aber im Aufwind war. Arbeit gab es genug, und nach mehreren Stellen der Marke „Mädchen für alles“ fand sie eine permanente Arbeit beim Depot, den Wartungs- und Reinigungshallen für die Straßenbahnen und Busse der Stadt und der näheren Region. Sie musste früh lernen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, aber angesichts ihrer jugendlichen und dörflichen Unerfahrenheit und auch wegen ihrer mütterlichen Natur wurde sie zur Beute eines Charmeurs, der im Umkreis von zehn Kilometern als Gassenengel und Familienteufel bekannt war. Mit diesem gutaussehenden Kerl, der die Menschheit durch adrette Kleidung und vorzügliche Manieren blendete, sich jedoch als spielsüchtiger Taugenichts herausstellte, hatte sie vier Kinder, ausnahmslos Jungen. Ich wusste lange Zeit nur von zwei Söhnen, von denen der ältere mein Vater wurde. Die beiden jüngsten Söhne starben im Kindesalter, aber über den Umstand ihres Todes habe ich nie ein Wort erfahren. Es blieb Omas streng gehütetes Geheimnis.

Deshalb verstand ich nicht, worum es ihr ging, als sie, einer Laune folgend, mit mir kleinem Kind an der Hand auf den alten Friedhof der Stadt ging, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Bis dahin waren wir immer auf dem neuen Friedhof gewesen, der weit draußen vor der Stadt lag. Oma fand die Stelle, wo ihre beiden Söhne begraben waren, schüttelte verwundert den Kopf und sagte: „Dass sie nach so langer Zeit noch da sind.“ Da Erwachsene für mich ständig Zeug sprachen, das mir rätselhaft blieb, nahm ich die Bemerkung hin, ohne Fragen zu stellen.

Vergessen hatte ich unseren Besuch auf dem alten Friedhof aber nie, und sehr viel später, als Oma schon seit zwanzig Jahren unter der Erde lag, fragte ich meine Mutter: „Was ist diesen beiden Jungen zugestoßen? Woran sind sie gestorben?“

„Ich weiß es nicht,“ lautete die Antwort. „Die Rede war von einem häuslichen Unfall, aber was genau passiert ist, weiß ich nicht. Oma hat nie darüber gesprochen.“

Ich wusste, dass ich nichts weiter aus meiner Mutter herausholen konnte. Aber ich sah ihrem Gesicht an, dass sie log. Es zeigte die Mimik einer Vertrauten, die alles wusste, aber einen Eid abgelegt und dabei die Faust auf ihr Herz gedrückt hatte.

30.06.2022
__________________

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