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Alt 22.02.2022, 21:42   #1
weiblich Kattze
 
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Dabei seit: 11/2021
Ort: Essen
Beiträge: 44


Standard Reisebekanntschaft

Reisebekanntschaft

Ich fuhr neulich mit einem ICE, als an einem Halt mein Sitznachbar zustieg. An der Gepäckablage hatte er ein sperriges Gepäckstück abzulegen, bevor er zielsicher den Platz neben mir ansteuerte. Zunächst sah ich nur flüchtig sein Gesicht - und trotzdem war mir sofort klar: Ich kannte ihn, absolut sicher. Er nahm höflich lächelnd den Platz neben mir ein und schaute hinaus.

Jeder kennt diese Situation, da taucht ein Gesicht auf, bekannt, oder sogar vertraut, aber woher? Man mag ja niemanden anstarren. Also schiele ich aus den Augenwinkeln hinüber zu dem Herrn in Grau. Er kommt mir ausgesprochen sympathisch vor. Ich wage schließlich, ihn anzusprechen:

„Verzeihen Sie, kennen wir uns nicht?“ Nicht originell gerade, aber was hätte ich sonst fragen sollen. Mein Nachbar wendet sich zu mir, und jetzt, da er mir in die Augen schaut, erschrickt mich seine Blässe, und der Ausdruck seiner Augen lässt mich frösteln. Er schaut eigentlich durch mich hindurch, und doch bin ich gemeint, zweifellos.

„Ja, bestimmt.“ Er lächelt fein, nachsichtig möchte ich es nennen. Ein Prominenter, den halt jeder kennt? Aber mehr gibt mein Nachbar nicht preis. Die Beine übereinandergeschlagen blickt er aus dem Fenster. Und ich greife wieder zu meinem Buch, zu dessen Handlung ich aber nicht zurück finde. Mir ist kühl, seit er den Platz neben mir eingenommen hat. Als ob die Kühle des Bahnhofs ihn noch umgäbe.

Der Mitreisende muss sehr schlank sein, nicht einmal die Oberschenkel scheinen die grauen Hosenbeine zu füllen. Und mir fällt auf, dass von ihm nicht der geringste Körpergeruch ausgeht - und nicht der Hauch von Körperwärme.

Ob dieser Mensch unter einer schlimmen Krankheit leidet, die ihn so abgemagert hat? Vielleicht liegt es daran, dass ich ihn nicht wiedererkenne.

Ich hole Atem, um noch einmal einen Kontaktversuch zu wagen. In diesem Moment verzögert der Zug seine Fahrt, und mit einer entschiedenen Geste blickt mein Nachbar auf die Uhr an seinem Handgelenk. Offenbar hat er mein Ansinnen erraten und entschuldigt sich: „Tut mir leid, ich habe einen Termin. Ich muß aussteigen.“

Noch bevor der Zug zum Stillstand kommt, begibt sich der Reisende in Grau zum Ausgang und ergreift sein eigenartig abgewinkeltes Gerät, das in schwarzen Stoff gehüllt über den Koffern und Reisetaschen hängt.

Auf dem Bahnsteig drängt sich eine aufgeregte kleine Gruppe von Menschen. Ein Mann mittleren Alters liegt auf dem Bahnsteig, das Hemd bis zur Brust aufgeknöpft. Jemand beugt sich darüber, stumm. Steht auf, als sich zwei Sanitäter mit einer Trage den Weg bahnen.

Mein Zug nimmt unmerklich sanft seine Fahrt wieder auf. Der Sitz neben mir bleibt leer. Ich taste mit meiner Handfläche nach dem Nachbarsitz: Kalt! Wo doch gerade noch jemand darauf gesessen hat.
Kattze ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2022, 11:05   #2
männlich Ex-Silent
abgemeldet
 
Dabei seit: 03/2022
Beiträge: 9


Standard Cool

Den letzten Satz hätte ich persönlich weggelassen, aber gute Idee, gut umgesetzt, ... schön kryptisch, wo nötig (Sense) ... bin Fan. Danke dafür, LGS

Geändert von Ex-Silent (27.03.2022 um 20:08 Uhr)
Ex-Silent ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2022, 15:06   #3
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Hallo Kattze,
interpretiere ich richtig, wenn mir der Satz "mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben" einfällt? Jeder macht sich sein eigenes Bild vom Tod und ginge es nach dem Wunsch meiner ersten Ehefrau, wäre es nicht der klapperdürre "Bruder Hein", sondern der fackellöschende Hermes Psychopomp, formschön in Marmor gemeißelt und engelsgleich über ihrem Grab stehend. Ja, die alten Griechen konnten selbst dem Tod (in seiner personifizierten Gestalt) etwas Ästhetisches abgewinnen. Nun würde ein Grabmal in der gewünschten Form an die 20.000 Euro kosten. Wir haben uns auf eine Marmorplatte mit den letzen ganz leicht veränderten zwei Versen (aus "der" Geliebten haben wir "des" Geliebten gemacht) aus Schiller Nänie geeinigt:

"Auch ein Klaglied zu sein im Mund des Geliebten ist herrlich;
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab."

Und gerade, wo ich es schreibe, - Attention, jetzt werde ich poetisch! - flattert der erste Schmetterling an meinem Fenster vorbei. "Nur" ein Zitronenfalter (was immerhin die Frage aufwirft: Wieso müssen Zitronen gefaltet werden?), aber ein unwiederlegbarer Beweis: Frühling ist es nun auch in MeckPomm.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.03.2022, 19:48   #4
weiblich Kattze
 
Benutzerbild von Kattze
 
Dabei seit: 11/2021
Ort: Essen
Beiträge: 44


Hallo Heinz,

der Gevatter Tod, dem meine Sympathie gilt, ist der aus dem gleichnamigen Grimmschen Märchen. Ein „armer Mann“, der einen Paten für sein zwölftes Kind sucht, lässt sich nicht täuschen, lehnt sowohl Gott als auch den Teufel mit guten Gründen ab. Zum Tod dagegen hat er Vertrauen: „Du bist der Rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann sein.“ Eine weise Entscheidung, wie sich später herausstellt...

...am Ende aber bekommt der Tod halt immer, was ihm gehört, später oder früher, wie z.B. Janis Joplin im Alter von 27:

On the day I was born the Grim Reaper smiled
He said I'll get you yet now you demonized child (...)


LG Kattze
Kattze ist offline   Mit Zitat antworten
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