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Alt 05.03.2022, 21:11   #1
weiblich Inka
 
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Standard Als ich die DDR verließ

Heute vor genau zweiundsechzig Jahren und etwa um diese Uhrzeit befand ich mich auf dem Weg zum Bahnhof. Wohin? Erst mal nach Westberlin und das Endziel sollte Mannheim sein. Der Grund: mein zukünftiger Mann – Karli, der schon 1947 Thüringen den Rücken kehrte und nach Mannheim ging, wartete auf mich.

Wir hatten uns im Juli 1958 kennengelernt, als er seine Eltern im Nachbarort besuchte. Anfang Januar 1959 folgte der nächste Besuch und dazwischen tauschten wir nur Briefe aus – die auch alle noch „am Leben“ sind. Telefonate war nicht möglich.

Damit meine Eltern keine Schwierigkeiten bekommen sollten, hatten wir vorher etwas vereinbart - siehe nachfolgendes Schreiben:

Karte vom 6.3.1959 – aus Westberlin

Meine Lieben!

Zuerst möchte ich Euch bitten, mir die kleine Notlüge zu verzeihen, denn ich bin nicht, wie gesagt, zur Leipziger Messe, sondern direkt nach Berlin gefahren. Ich will versuchen, sobald als möglich nach der Schweiz zur Jutta zu kommen. Kann mir gut vorstellen, dass Euch meine Nachricht wie ein Schlag trifft, aber ich hoffe und wünsche doch sehr, dass Ihr mir meinen Schritt verzeiht und mich versteht. Im Brief werde ich Euch alles ausführlich erklären.

Seid vielmals gegrüßt und geküsst von Eurer Inka


Erster Brief vom 8.3.1959 – aus Mannheim

Die Karte werdet Ihr doch inzwischen erhalten haben und heute will ich Euch nun endlich einen ausführlichen Bericht geben.

Also, meine Lieben, Ihr könnt es Euch einfach nicht vorstellen, wie glücklich ich bin. Aber immer der Reihe nach, möchte Euch erst mal den Verlauf der Fahrt schildern. So einfach hätte ich es mir gar nicht vorgestellt. Kann es bis jetzt noch nicht fassen. In Berlin-Lichterfelde wurden nur die Ausweise verlangt, kein Mensch hat nach Gepäck gefragt oder was man ansonsten in Berlin vorhat.

Zunächst fuhr ich mit der S-Bahn-Friedrichstraße und dort löste ich eine neue Karte bis Babelsberg, stieg aber gleich an der zweiten Station im Westsektor - Lehrter Bahnhof - aus. Mit einer Seelenruhe und Gefasstheit setzte ich mich in die S-Bahn. Gegen 4.55 h kam ich auf dem Ostbahnhof an und kurz vor
5.30 h stand ich im Westsektor. Kann Euch das Gefühl nicht beschreiben, das ich dann hatte.

Nachdem ich den Fuß aus der Bahn gesetzt hatte, wandte ich mich an einen älteren Herrn. Ich war nicht sicher, ob das auch wirklich der Westsektor war, weil mir die Gegend für den ersten Moment ein bisschen ärmlich aussah. Er schickte mich zur gegenüberliegenden Polizeiwache und die verwiesen mich an das Lager in Berlin—Marienfelde.

Ich tauschte zehn Ost-Mark gegen DM 2,60 ein, fuhr ein Stück mit der Straßenbahn, dann mit einem zweistöckigen Omnibus.

Im Lager wurde ich ärztlich untersucht und auch geröntgt und musste durch viele Räume wandern, zehn reichen nicht. Sichtung nennt man das. Überall die gleichen Fragen von Amerikanern, Engländern und Franzosen. Aus welchem Grunde geflüchtet, ob Parteimitglied, ob ich Militärtransporte, Panzer oder Kasernen unterwegs oder zu Hause gesehen hätte, ob ich mit Leuten vom Sicherheitsdienst zusammenkam, oder welche namentlich kenne.

An der letzten Stelle sagte man mir, dass ich eigentlich gar nicht durchs Lager hätte gehen müssen, wenn ich den Flug selbst bezahle, aber wer kann das wissen.

So ging der ganze Vormittag im Lager drauf, ärgerlich - aber ich hatte doch damit gerechnet, irgendwelche Papiere zu bekommen.

Auf dem Fürsorgeamt - auch im Lager – setzte sich eine Frau sehr für mich ein, gab allerhand gute Ratschläge und besorgte mir telefonisch eine Flugkarte. Sie fand es auch ganz richtig, dass ich gleich abflog und mich nicht erst im Lager aufhielt. Eventuell hätte ich dann umsonst fliegen können. Das Lagerleben wäre sicher nicht angenehm gewesen, auch gäbe es viele Spitzel darunter. Man rief immer nur die Nummer und den Vornamen auf.

Unter den Flüchtlingen gab es in der Mehrzahl Jugendliche und viele Ostberliner. Auch einige, die überstürzt Haus und Hof im Stich lassen mussten und nur mit dem, was sie am Leibe hatten, ankamen.

Für 635,-- Ost-Mark erhielt ich DM 177,60. Der Flug bis Frankfurt kostete
DM 93,-- und dann die Bahnfahrt bis Mannheim DM 6,80. Am Nachmittag hatte ich noch ein Telegramm an Karli aufgegeben. Um 17 h flog die BEA - British European Airways - ab und ich kam ca. 18.30 h in Frankfurt an. War also genau 24 Stunden unterwegs.

Im Flugzeug staunte ich nicht schlecht. Zuerst bot eine Stewardess jedem Bonbons an, Zeitungen zum Lesen und dann gab es Sandwiches, Kuchen, Kaffee und einen Apfel. Ich hatte nämlich nichts mehr zu essen.

Danach wurde mir etwas übel und ich dachte: wenn wir doch bloß schon in Frankfurt wären. Trotzdem war es aber herrlich, unvergesslich. So bin ich wenigstens einmal im Leben geflogen. Ach, Ihr Lieben, es ist einfach nicht zu beschreiben, wie wohl ich mich hier fühle. Ich kann es noch gar nicht alles verdauen.

Gestern Vormittag bummelte ich ein bisschen durch die Stadt, war auch in einer Kaufhalle für Textilien usw. Also, auf schnellstem Wege wieder raus, ansonsten….Hätte am liebsten gleich losgeheult.

Nachmittags hatte Karli frei und wir kauften zusammen ein, im neu aufgebauten Kaufhaus “Karstadt“, mit Rolltreppen. Oh, all diese herrlichen Sachen! Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Also, liebe Eltern, Ihr braucht Euch um mich wirklich keine Sorgen zu machen, mir geht es tadellos. Ein Zimmer habe ich, einfach herrlich, wie im Paradies. Es ist allerdings noch nicht ganz fertig. Miete DM 25,--.

Bis jetzt steht drin: ein Wohnzimmerschrank mit Glas in der Mitte, eine Kommode, ein Radio, ein Bett mit Federkernmatratze und Steppdecke, ein Nierentisch und zwei Cocktailsessel, ein Teppich, ein Putzhocker mit Waschschüssel und Eimer, ein elektrischer Kocher mit zwei Platten.

Ach, Ihr müsstet das alles mal sehen, unvorstellbar. Es ist so schön gemütlich. Ach so, dann habe ich ja noch eine schöne Stehlampe mit drei Tüten - rot, grün, gelb. Wunderbar.

Ich wohne vier Treppen hoch, da ist man ziemlich k.o., wenn man oben ankommt. Heute Nachmittag waren wir ein bisschen spazieren und anschließend im Kino “Schlag auf Schlag“ – Musikfilm. Aber bitte nehmt es mir nicht übel, wenn ich meinen Brief jetzt beende, es ist schon etwas spät.

Schreibt bitte gleich, ja? Ich bin ja so neugierig

Seid vielmals gegrüßt und geküsst von Eurer glücklichen Tochter …


Brief vom 12.3.1959:

Ganz kurz möchte ich mich heute fassen. Habe eine dringende Bitte. Liebe Mutti, schicke mir doch bitte schnellstens per Eilboten das Stammbuch oder wenigstens eine Abschrift der Geburtsurkunde. Das ist sehr wichtig, ansonsten bekomme ich keinen Ausweis und werde bei der Staatsangehörigkeit nicht anerkannt.

Vorgestern war ich auf dem Arbeitsamt, aber es konnte nichts bearbeitet werden, weil die Unterschrift vom Hauseigentümer fehlte und ich die polizeiliche Anmeldung noch nicht hatte. Heute erhielt ich aber alles Nötige.

Auf dem Arbeitsamt drückte man mir vier Karten in die Hand und da soll ich mich überall vorstellen. U.a. bei einem Versicherungsmakler, aber leider war der Chef nicht da, muss Montag noch mal hin. Dann stellte ich mich in einem Geschäft für Lederbekleidung vor und soll morgen noch mal kommen. Als Stenokontoristin bekäme ich ungefähr DM 350,--. Auf den anderen beiden Stellen war ich noch nicht, geschieht morgen. Nun kann ich mir das Beste raussuchen.

Wir haben so viele Einladungen von Karli‘s Kollegen und Freunden vorliegen. Vorgestern, gegen Abend, waren wir mit dem Auto in Heidelberg auf dem Königsstuhl.

Das Auto gehört Werner K. – Steuerberater- Karli‘s Freund. Wahrscheinlich kann ich bei ihm abends noch einige schriftliche Arbeiten erledigen, ein kleiner Nebenverdienst. Man muss jede Gelegenheit nutzen. Auch kauft man hier mit viel Überlegung ein. Die Preise sind unterschiedlich und jeder schaut, wo er am billigsten einkaufen kann. Ich bin auch sehr erstaunt, dass alles so schön verpackt wird, auch die kleinsten Sachen.

Na, ich werde langsam zum Schluss kommen. Will heute Abend mit Sophie ins Kino in “Vater unser bestes Stück“, die Männer spielen inzwischen Eisenbahn. Gestern war ich in “Gruß und Kuss am Tegernsee“.

Seid vielmals gegrüßt und geküsst von Eurer Inka
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