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Alt 24.06.2022, 21:49   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Nylons

In meinen frühen Teenager-Jahren war es für mich ein gewohnter Anblick, dass Frauen in Heimarbeit Nylon-Strümpfe reparierten und sich mit dieser Geduldsarbeit ein paar D-Mark verdienten. Sie zogen den Strumpf über einem hohlen Gegenstand straff, nahmen wie bei einem gestrickten Wollpullover mit einer Nadel den lasch gewordenen Faden der gefallene Masche auf und verbanden ihn wieder mit den Querfäden, von denen er sich losgerissen hatte und runtergeglitten war.

Die Arbeit lohnte sich, denn Nylons, wie wir sie nannten, waren teuer. Man trug sie nicht als Strumpfhose, denn diese war noch nicht erfunden worden, sondern brauchte einen Gürtel mit Strapsen, um jeden der beiden Strümpfe zu befestigen, was als sexy galt. Wenn sich beim Sitzen die Konturen der Verschlüsse durch den Stoff der engen Röcken drückte, die damals modern waren, spielte die Phantasie der jungen Männer verrückt.

Nylons waren Luxus. Man warf sie nicht weg, wenn sie eine Laufmasche hatten, sondern bezahlte ein bis zwei Mark für die mühsame Reparatur, statt sich für zwölf Mark ein Paar neue zu kaufen, die, wenn man Pech hatte, nach einem Tag des Tragens auch eine Laufmasche hatten. Um das Preisverhältnis zu verstehen, muss man wissen, dass wir damals für unsere kleine Zweizimmerwohnung eine Monatsmiete von dreißig Mark, Betriebskosten inbegriffen, aufbringen mussten, was heißt, dass dieser Maßstab auf heutigen Mietzins übertragen einen Preis von etwa einhundertfünfzig Mark beziehungsweise siebzig Euro für ein Paar Nylons ergeben würde.

Deshalb war es kein Wunder, dass die Frauen und jungen Mädchen in den warmen Monaten sonnensüchtig wurden und sich in der freien Luft regelrecht braten ließen, bis ihre Haut braun wie Kakao war. Um die Nylons vorzutäuschen, malten sie sich mit einem Augenbrauenstift, den sie für ein paar Pfennige bei Woolworth kaufen konnten, die Naht der nicht vorhandenen Nylons auf die nackten Waden und täuschten so den Luxus vor, den sie sich nicht leisten konnten. Zehn Jahre später zog diese Naht nicht mehr, denn da wurden Strümpfe ohne Naht modern, und bald darauf kamen die Strumpfhosen auf, die immer billiger wurden. Was einmal als sexy gegolten hatte, war über Nacht vulgär und geschmacklos geworden.

Mit dem Auftrieb der Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland war der Luxus zum schnellen Sterben verdammt. Jeder konnte sich alles leisten, wenn auch auf „Stottern“, wie es damals hieß. Der Quelle-Katalog wurde immer dicker, und die Kleider- und Schuhschränke begannen zu bersten. Die Nylons und Strapse starben aus, denn schon bald traten die billigen Strumpfhosen ihren Siegeszug an. Bekamen sie Laufmaschen, warf man sie weg und kaufte sich neue, die nicht viel mehr kosteten als drei Kugeln Speiseeis beim Italiener.

Ich trage nur Söckchen, im Sommer wie im Winter, das Paar aktuell für vierzig Cent. Der Klimawandel kommt mir entgegen. Bald kann ich wieder die meiste Zeit des Jahres barfuß gehen, wie in meiner Kindheit, als der Asphalt vor Hitze beinahe kochte.
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Alt 24.06.2022, 22:51   #2
Ex-Fourwaystreet
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Danke Ilka-Maria für das schöne Stimmungsbild bzw. das Zeitgemälde (nennt eine das so?).

Ich bin ein wenig jünger als Du - Jahrgang 61 - allerdings meine ich, dass ich so "Knopfmechanismen" mit Strumpf ans Mieder auch noch bei meiner Mutter beobachtet habe.

Selber war ich total begierig darauf, die ersten Feinstrumpfhosen zu tragen. Weil ich sie schon mit 10, 11 Jahren getragen habe, waren sie mir alle viel zu groß und warfen Wellen. Laufmaschen in denselbigen stoppten wir mit Nagellack.

Die waren auch nicht sooo sehr billig. Ich meine mich an 3.99 DM zu erinnern. Da waren die Strumpfhosen noch so in der Art wie Hosen mit Bügelfalte über einen separaten Karton in DinA5 in die Packungen gelegt und es gab sie in unterschiedlichen Farbtönen. Später gab es sie dann in so kleinen Kartons in Art der Glühbirnen ...nur bisserl höher und da waren sie so lieblos reingeknautscht.

Als ich älter wurde, fand ich Feinstrumpfhosen mit das ekligste Zeug - pure Synthetik und das im absoluten Hautkontakt brrrrrr - und war, wenn ich wegen Arbeit o.ä. Kram welche tragen musste, immer total froh, mich abends aus diesen rauszuschälen. Heutzutage würden mich keine 10 Pferde mehr in so ein Dingens reinkriegen.

VG 4WS
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Alt 24.06.2022, 23:26   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
Beiträge: 31.103

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Zitat von Fourwaystreet Beitrag anzeigen
Laufmaschen in denselbigen stoppten wir mit Nagellack.
Das kenne ich auch.
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