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Alt 05.06.2022, 15:30   #1
weiblich Inka
 
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Standard Erinnerungen – Als Sechsjährige in Korehlen

Dieser Bericht wurde im Dezember neunzehnhundertzweiundneunzig im „Labiauer Heimatbrief“ abgedruckt, inklusiv von mir eingeschickter Fotos. Daraufhin meldeten sich einige Personen, die sich erkannt hatten.

Es war Anfang April neunzehnhundertvierundvierzig, als wir auf Geheiß von Gauleiter Erich Koch unser geliebtes Königsberg verlassen mussten. Meine Mutter, die Oma mütterlicherseits, meine jüngeren Geschwister Jutta und Erhard.

Ich erinnere mich noch sehr deutlich, dass jede Menge Koffer, Kisten und Zinkwannen auf den Bürgersteigen standen. Hektisch rannten wir zum etwa zehn Minuten entfernten Bahnhof. Meine Puppen Inge und Grete im Arm haltend. Von letzterer verlor ich die Mütze, durfte nicht mehr zurück und war sehr unglücklich. Tante Herta, Mutti’s Schwester, hatte die Puppen so schön behäkelt. Sie und ihre neunzehnjährige Tochter Helga mussten leider zurückbleiben. Beide kamen nach Kriegsende dort ums Leben.

Bestimmungsort war Korehlen im Kreis Labiau. Am Bahnhof nahm uns Großbauer Wittösch in Empfang. Was für ein herrliches Gefühl, zum ersten Mal im Leben auf einem Pferdewagen sitzen zu dürfen!

Ach ja, die Gänse! Die „beeindruckten“ mich insofern, dass ich fürchterliche Angst, vor allem vor dem Ganter, hatte. Das „Häuschen mit Herzchen“ lag etwas entfernt vom Wohnhaus und der Gang dorthin fiel mir, wegen der großen Gänseschar direkt davor, schwer. Ich zitterte jedes Mal vor Angst, schrie Zeter und Mordio und die Dienstmädchen von Wittösch’s kamen mir oft zu Hilfe. Einmal wäre ich vor lauter Aufregung beinahe in das Loch gerutscht.

Herr W. war sicher nicht gut auf mich zu sprechen. Hatte ich doch während des sechsmonatigen Aufenthaltes allerhand angestellt. Das geschah sicher nicht aus Böswilligkeit. Als Großstadtkind musste man das Landleben doch erst mal erkunden.

Papa war im Krieg. An seinem Geburtstag im Mai hatte ich die „geniale Idee“, vor dem Haus einige Stiefmütterchen abzupflücken. Damit schmückte ich den Küchentisch rundherum.

War es bei dieser oder einer anderen Gelegenheit? Hatte mal unreife Äpfel abgepflückt. Eines Tages kam Herr W. mit der Sense auf dem Arm in unsere Küche und schimpfte sehr. Mutti war das sicher sehr unangenehm.

Wir Schwestern waren meist gleichgekleidet. Somit verwechselte uns Herr W. oft, zumal wir uns sehr ähnlich sahen. Die Dreschanlage mit großen Rohren im Hof reizte uns. Durch diese krabbelten wir gern. Kaum kam Jutta zum Vorschein, ließ er eine Schimpfkanonade los, die eigentlich mir galt.

An einem schönen Sommertag kitzelte ich einen Bullen hinter dem Zaun mit einer Peitsche, was ihm wohl missfiel. Irgendwie geriet ich unter das Vieh und wer weiß, was aus mir Naseweis geworden wäre, hätten die anderen Kinder nicht laut um Hilfe geschrien. Wieder rettete mich ein Dienstmädchen. Nachmittags fand ich mich im Bett wieder und war verwundert. Draußen lachten mich die Kinder aus, aber warum? Die Erinnerung war ausgelöscht. Schockschwerenot!

Unser Omchen kochte fast jeden Morgen Klunkermus *). Und wie gut schmeckte der Streuselkuchen! Noch heute meine ich, diesen Geruch in der Nase zu haben.

Im Insthaus **) wohnte der Schweizer mit Frau und Sohn Dieter und ein junges polnisches Ehepaar mit Kind. Ein zweites kam im Sommer zur Welt. Ich war, schon des Babies wegen, fast täglich dort. Die nette Polin gab mir oft Milch und Brot.

Einmal in der Woche kaufte Mutti auf Lebensmittelkarten in Kreuzingen ein – sechzehn Kilometer hin und zurück – alles per pedes. Wittösch’s gaben uns nie etwas, nicht mal Milch, obwohl Mutti oft für sie auf dem Felde arbeitete, manchmal zusammen mit einem französischen Kriegsgefangenen. Die Feldarbeit war ungewohnt für sie. Ich schaute ihr oft dabei zu und empfand großes Mitleid.

Zur Schule ging ich noch nicht, war aber oft am Schulhaus. Einmal beobachtete ich dort einige Kinder, die eifrig damit beschäftigt waren, einen ausgedienten Hühnerstall für einen Kindergeburtstag herzurichten und zu schmücken. Ich beneidete sie sehr und hoffte, dazu eingeladen zu werden, aber leider… Traurig trottete ich von dannen. Meine eigenen Kindergeburtstage wurden später auch nie gefeiert.

Mutti und Oma fuhren ab und zu nach Königsberg, um noch einige Sachen aus der Wohnung zu holen. Ende August, als Königsberg in zwei Nächten einen schrecklichen Bombenhagel erlebte, hielt sich Oma gerade dort auf und Mutti hatte eine schlaflose Nacht. Trotz neunzig Kilometer Entfernung war in Richtung Königsberg eine helle Wand wahrzunehmen. Das Viertel, in dem wir einst wohnten, blieb aber unversehrt.

Mal fuhr Mutti mit mir für einige Tage zu Bekannten nach Gaidwethen. Es war gerade Kartoffelernte und ich half fleißig mit. Der Bürgermeister in Korehlen gab Ende September eine telefonische Nachricht an den Bürgermeister in G. durch. Wir sollten sofort zurückkommen und im Pferdegalopp ging es zum Bahnhof. Tags darauf mussten wir unsere Heimat endgültig verlassen, landeten in Lößnitz / Erzgebirge, wohnten dort für circa ein Jahr.

Zu Weihnachten kam ein Paket von Wittösch’s. Inhalt: eine Gans und Pfeffernüsse. Welch eine Freude und Überraschung, aber… Mutti hatte dafür RM 30,00 zu überweisen, obwohl sie nichts bestellt hatte.

Im August nächsten Jahres ***) werde ich mit meinem Mann wieder den Urlaub in Nidden / Kurische Nehrung verbringen. Vielleicht haben wir die Möglichkeit, von dort aus mit unserem Gastgeber nach Korehlen zu fahren. Heute heißt der Ort Sowjetskoje.

Erklärungen:

*) Klunkermus ist ein aus Mehl, Eiern und Wasser gerührter Teig, den man in kochende Milch fließen lässt. Das Ergebnis: gewollte kleine Klümpchen in der Suppe.

**) Insthaus ist eigentlich der Name für eine Dienstwohnung und in diesem Fall stammte der Schweizer nicht aus der Schweiz, sondern diesem oblag die Betreuung der Kühe.

***) Ja, es klappte im Sommer neunzehnhundertdreiundneunzig mit dem Besuch in Korehlen – von Nidden - heute Nida - aus.
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