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Alt 09.12.2023, 12:13   #1
männlich Pe-Be
 
Dabei seit: 12/2023
Beiträge: 31

Standard Von der Kunst des dosierten Verlaufens

Aus: Logbuch (Sommer1976)

Von der Kunst des dosierten Verlaufens

In der richtigen Dosierung kann Kontrollverlust ein Segen sein. Menschen, die sich ab und zu ein bisschen verlaufen, kennen die Wirkung. Sie waren in Gedanken, in irgendeiner Ferne, vor oder hinter ihrer Zeit, da plötzlich kennen sie sich nicht mehr aus, und schon werden sie achtsam und lebendig. Manche Menschen insbesondere solche, die sich nie verlaufen, müssen daran erinnert werden, dass man das Leben auch verlieren kann ohne zu sterben, denn am Ende zählen bekanntlich nur die Augenblicke in denen man bei sich und gegenwärtig war.
Verlaufen als Solches ist natürlich keine Kunst, Kunst wird es erst durch Eingebung, Glück und Sinn für das rechte Maß. Die Choreografie ähnelt der ei-ner guten Geschichte. Das heißt sie schöpft ihre Energie aus der Sprengung des Vorhersehbaren und daraus, sich auf die Folgen einzulassen. Wo, wie und wann man ein wie großes Abenteuer heraufbeschwört ist wichtig, noch wichtiger aber ist die Auswahl möglicher Begleiter. Immerhin ist zu bedenken, dass das Unabsehbare, herausgefordert und befreit, seinen eigenen Gesetzen folgt. Möglich, dass Menschen miteinander dem Leben auf den Grund sehen, und was sie dort sehen, kann dazu führen, dass sie einander nie wieder sehen wollen.
Das Überraschungspotential der ersten Reise mit einer Frau, in die man hilflos verliebt ist, durch verwegene Spontaneität zu steigern, verböte sich nach allen Regeln ernstzunehmender Kunst eigentlich von selbst. Bei einem Mann, der Verbote notorisch durch deren Übertretung auf ihre Ernsthaftigkeit prüft, kommt man mit ‚eigentlich’ nicht weit.
Auf geht’s!
Von Ventimiglia, dem Grenzstädtchen zu Frankreich an der italienischen Rivie-ra, führt eine Passstraße, mehrfach die Grenze zwischen Frankreich und Italien kreuzend, nach Turin. Sie folgt dem engen Tal des Flusses Roya und trennt die Seealpen von den Ligurischen Alpen. Die Straße ist steil und der Fluss entspre-chend energisch. Als hätten sie Angst vor einer in den engen Tälern lauernden Drohung, klammern sich verwitterte Dörfer an rettende Bergspitzen. Eines da-von heißt Airole. Seine Architektur erinnert an die eines Hornissennestes.
Ganz oben, direkt neben dem Friedhof, stand auf einem kleinen Plateau, mit schönem Blick auf Berg und Tal, ein kleiner VW-Bus mit orangefarbenen Gar-dinen an den Fenstern, der war den beiden Auto, Küche und Schlafzimmer. Die Welt war noch nicht von pompösen ‚Wohnmobilen’ und ihren anspruchsvollen Insassen verdorben, Fremde waren willkommen und Gastfreundschaft gab es umsonst. Jeden Morgen stiegen aus dem handlichen Bus zwei unaufdringliche, freundliche Menschen, und bald schon begegneten ihnen die Kirchgänger und Friedhofsbesucher mit einem Gruß in der Landessprache. Der Bäcker und der Kaufmann berechneten keine Touristenpreise, Tomaten und Gurken bekamen sie geschenkt und meist schien die Sonne. Es war ein großartiger Platz.
Zum Lebensgefühl glücklicher Menschen passt, dass sie nach kurzer Zeit über-mäßiges Vertrauen in die Gunst der Umstände entwickeln. Die Erkundung der Umgebung mit Wanderkarten zu versachlichen, kam überhaupt nicht in Frage. Die beiden erkundeten schmale Pfade, an deren Schönheit sich schon viele Generationen von Wanderern, Händlern, Soldaten oder Bauern satt gesehen hatten. Damit solche Schönheit nicht in unbefugte Hände fiele, hatte sich die Natur darangemacht, diese Wege zu verstecken. Bisweilen also verrannen solche Pfade, wurden schmal und immer schmaler und verliefen sich in kratzigem Gebüsch, zwischen würzigen Kräutern, oder endeten vor Ruinen längst vergessener Besiedlung.
Sich dennoch leidlich zurechtzufinden, ist im Gebirge nicht sonderlich schwer, Wasserläufe wechseln die Richtung, aber nie das Ziel. Äußerlich bewirkten solche Ausflüge nicht mehr als ein paar Kratzer und Appetit auf alles Mögliche, innerlich aber wuchs ungläubiges Staunen.
Wider alle Erfahrung verlor niemand ein Wort darüber, wer zu wenig Wasser mitgenommen hatte, wer daran Schuld war, dass die Dornen Frauenbeine fast noch ärger zerkratzen als Männerbeine oder dass die beiden zur falschen Zeit an der falschen Bergseite liefen und vor der Sonne kein Entrinnen war. Wenn eigentlich Unmögliches geschieht, handelt es sich um ein Wunder. Wer an einem Wunder teilhat, lässt alle Vorsicht fahren.
In einer bildschön verfallenen Ruine, am Ende eines dieser selbstvergessenen Wege, hatten gute Geister erstklassigen, dunkelroten Wein in romantisch ver-staubten, mundgeblasenen Flaschen hinterlassen. Dieser Wein und die Tatsache, dass der Tag noch jung war, half dem Entschluss zur Reife, nicht etwa umzukehren, sondern anstelle des fehlenden Weges durch allerlei Gestrüpp zum nahen Fluss hinab zu steigen, um seinem Lauf zu folgen. Irgendwo musste er der Straße wieder begegnen, denn Straßen folgen im Gebirge Flüssen und wechseln an Mäandern gern die Seiten. Das Wunder nahm also den Lauf des Flusses Roya.
Anscheinend plätscherte der nicht immer so freundlich, wie er sich den Beiden zeigte. Wenn er wollte, konnte er offenbar tonnenschwere Steine rollen, bis sie rund und glatt waren. Im Buschwerk zu beiden Seiten fanden sich darüber hinaus in beträchtlicher Höhe Spuren, die nur ein verheerendes Hochwasser hinterlassen haben konnte.
Stellenweise gab es begehbare Pfade, fehlten die, sprangen die beiden von Stein zu Stein. Waren die Steine zu weit voneinander entfernt, mussten sie durchs Wasser waten, und wo Felsbarrieren den Fluss angestaut hatten, ging es nicht weiter, ohne zu schwimmen. Sie kamen zwar fröhlich aber langsam voran. Zusätzlich verzögerten üppige Pausen das Fortkommen. Aus manchen großen, glatten Felsen hatte das Wasser einladende Mulden gespült. Auf solchen felsigen Sesseln saßen die beiden und ließen einander Zeit.
Die junge Frau wackelte im Wasser mit den Zehen und sah Vögeln und Schmet-terlingen nach, der Mann hatte sich auf den Bauch gelegt und beobachtete Fische. Er wunderte sich über die Natur, die den Forellen zwar eine perfekte Tarnung verliehen, aber anscheinend vergessen hatte, dass mögliche Feinde ihre schwarzen Schatten klar und deutlich sehen konnten. Den Vorteil dieses scheinbaren Mangels begriff er erst, als er den Fischen beim Fliegenfangen zusah. Fiel das Licht nicht genau von oben auf die Wasseroberfläche, bewegten sich die Schatten scheinbar ohne ihre Verursacher. Schlecht behütet von ihren phantastischen Dreihundertsechzig-Grad-Augen hielten die Insekten Abstand von den gut sichtbaren Schatten und wurden so zur Beute der unsichtbaren Fische.
„Keine Ahnung, warum mir das gerade einfällt“, sagte der Mann.
Die junge Frau drehte ihm ihr Gesicht zu und wischte störende Haare beiseite.
„Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst, gelebt zu haben“, deklamierte er. (1)
„Noch mal“, sagte sie.
Er wiederholte den Satz.
„Ist das von dir?“
„Nein“, sagte er.
„Philosoph, lange tot?“, fragte sie.
„Ja“, sagte er.
Beide schwiegen. Sie, mit dem Angebot, ihm dabei zu helfen, die vertrackte Weisheit schnell wieder zu vergessen, er, als habe er noch etwas auf dem Herzen.
An Orten, die für sie besonders waren, schichten manche Menschen ein paar flache Steine zu einer kleinen Pyramide. Der Mann suchte im klaren Wasser, fand aber nichts Geeignetes.
„Das ist jetzt von mir“, sagte er schließlich.
Sie hob die Brauen so weit, dass sich kleine Falten auf der Stirn bildeten.
„Liebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst, geliebt zu haben“, verkündete er.
Da lachte sie und hielt ihm ihren eingerissenen Stoffschuh entgegen.
„Sieh mal“, sagte sie, „die neuen Espandrilles gehen schon kaputt.“

Der mitgenommene Weinvorrat war zur Hälfte an einem Felsen zerschellt, das Jutetäschchen tiefrot getränkt und die erwartete Begegnung mit der rettenden Straße nirgends in Sicht. Als die Schatten länger wurden, wuchsen auch Hunger und Erschöpfung. Der Spaß begann sich in Ernst zu verwandeln, aber immer noch war es ein Ernst ohne Klagen und ohne Vorwürfe.
Sogar als es schon dämmrig wurde, übertraf der Reiz der vergehenden Farben noch die Erschöpfung, waren die Ohren noch offen für die ersten Nachtigallen. Aber auch das ungute Gefühl, vielleicht wirklich in Schwierigkeiten geraten zu sein, wollte nicht mehr vergehen, nachdem es irgendwann einfach aufgetaucht war.
Natürlich ging das Ganze irgendwann zu Ende, denn es gab sie ja, die Straße, und es gab den Fluss, und solche Straßen überqueren solche Flüsse immer, es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.
An der Brücke gab es sogar ein kleines Gasthaus und einen großen Teller mit Brot und Wurst und Käse. Und hier, wo man mit Menschen rechnen durfte weil es eine Autostraße gab, gab es auch ein paar Laternen und große Schilder. Auf den Schildern stand, ‚Pericolo di morte!’ - und dass man auf keinen Fall in den Fluss hinabsteigen solle, da irgendein Wasserkraftwerksbetreiber jederzeit auf die Idee kommen könnte, den Wasserspiegel meterhoch ansteigen zu lassen. Deshalb also die Plastikfetzen, zwei drei Meter über uns im Gebüsch.
Wie viel Blindheit gegenüber unbekannten Risiken durfte man sich leisten, besonders wenn man nicht alleine unterwegs war?
„Wenn man immer über alles nachdenken würde, was schief gehen könnte, würde man sich bald überhaupt nichts mehr trauen“, sagte die junge Frau, und ein paar hundert Meter weiter: „War doch schön.“
Ein halber Mond spendete ausreichendes Licht, Hunger und Durst waren ver-gessen und würzige Nachtluft weitete Gedanken. Ab und zu versuchten sie im Gleichschritt zu gehen, kamen aber schnell wieder aus dem Takt. Es ist gut und es ist richtig, wenn Menschen mit unterschiedlich langen Beinen unterschiedlich lange Schritte machen, dachte der Mann. Er fühlte, dass mit der Verliebtheit etwas geschah. Was auf ihn zukam war anders, war neu, war etwas, das er noch nicht kannte.

Zitat Quelle: (1) Christian Fürchtegott Gellert, in Erben und Reich. 1770. Band 1, Seite 346
Pe-Be ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.12.2023, 17:45   #2
Viljo
 
Dabei seit: 11/2023
Beiträge: 3

Standard Eine verzaubernde Erzählung

Ich habe das Lesen dieser Erzählung sehr genossen. Die Verbindung von interessanten Denkanstößen und einer verträumten Geschichte hat mir sehr gefallen und ich bin gespannt mehr deiner Texte zu lesen. Texte, welche mich in Erinnerungen schwelgen lassen und neue Gedanken in mir hervorbringen.

Danke :)
Viljo ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.12.2023, 18:46   #3
männlich Pe-Be
 
Dabei seit: 12/2023
Beiträge: 31

Standard Von der Kunst des dosierten Verlaufens

Eine erfreulichere Reaktion kann ich mir kaum vorstellen - und dabei mangelt es mir nicht an Phantasie! Danke!
Pe-Be ist offline   Mit Zitat antworten
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Lesezeichen für Von der Kunst des dosierten Verlaufens



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