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Alt 22.12.2021, 19:48   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Schrei

Manche Episoden im Leben, die inkohärent zu sein scheinen, stellen sich, sobald sich ihre Einzelteile zusammengefügt haben, als eine Geschichte heraus, die in eine logische Konsequenz mündet. Dann kommt mit einem Fingerschnippen das „Bingo!“, oft in einem Moment, in dem man nicht mehr an diese Episoden gedacht hat: Ein Blitz flammt auf und präsentiert die Erkenntnis in hellstem Licht.

*****

Ich hatte eine guten Lehrer, Fachlehrer für Deutsch, Literatur, Geschichte und Geographie. Eine gute Mischung, die meinen Neigungen entsprach, insbesondere, was Literatur anging. In einer Literaturstunde legte er uns Herz: „Kinners, lernt nicht nur für die Schule und die Noten. Lest Zeitung und Bücher. Guckt Fernsehen. Geht ins Kino. Bildet euch!“

Ich will hier nicht darüber diskutieren, wie angesichts der heutigen Mediendiskussion dieser Aufruf noch empfehlenswert ist, aber als Teenager im Nachkriegsdeutschland nahm ich meinen Lehrer ernst. Deshalb bestand ich darauf, mir im Fernsehen „Richard III“ ansehen zu dürfen, einen Film, in dem Laurence Olivier nicht nur die Hauptrolle spielte, sondern für den er das Drehbuch geschrieben und bei dem er auch die Regie geführt hatte.

Normalerweise sahen meine Eltern und ich gemeinsam fern. Das Medium war damals neu und mindestens so attraktiv wie der neue Quelle-Katalog, die Ausstellungen der Möbelverkäufer oder die Höfe der Gebrauchtwagenhändler: Jeder bestaunte diese Wunderwelt voller offener Fenster und noch zu erfüllender Wünsche, und jeder wusste, dass sie erreichbar waren, vom VW mit dem Brezelfenster bis hin zum Urlaub in Italien. Man musste nur fleißig arbeiten, Kaufverträge für sofortige Warenlieferung abschließen und sie „auf Stottern“, wie es damals hieß, einlösen.

Eine dieser frühen Wunderwelt-Errungenschaften war eine Truhe, die man heute als multifunktional bezeichnen würde: Fernsehgerät, Radio, Schallplattenspieler und Stereo-Lautsprecher in einer Hülle aus edlem Holz, hochglanzlackiert.

Vor so einem Glanzstück saß ich nun, um „Richard III“ zu sehen, allerdings angesichts des Anspruchs völlig allein. Mutter nahm meine Laune, der Aufforderung meines Lehrers zu folgen und mich intellektuell von der Arbeiterklasse abzuheben, zum Anlass, in der Küche zu hantieren. Doch dann kam jener unselige Moment, in dem sie das Wohnzimmer betrat, weil sie frischgespülte Weingläser in die Vitrine zurückstellen wollte - just in dem Moment, in dem in meinem Shakespeare-Drama ein Mensch erschlagen wurde und seine grauenhaften Todesschreie von den Wänden seines Verlieses widerhallten. Mutter stapfte aufgebracht, fast furiengleich, zum Fernsehgerät, schaltete es aus und stauchte mich zusammen. Auf ihrer Stirn standen Zornesfalten, und ihre Worte bissen mich wie die Zähne eines tollen Hundes. An die Einzelheiten ihrer Vorwürfe kann ich mich nicht erinnern, denn ich war zu überrascht, ihre heftige Reaktion zu verstehen. Ohne die Stimme des Protestes zu erheben nahm ich es hin, dass meine Schultern immer schmäler wurden, mein Brustkorb einsackte und ich beinahe mein Herz anhielt. War ich wirklich von Grund auf verdorben und dem humanen Ideal meiner Mutter nicht würdig, weil ich mir diesen Film hatte anschauen wollen? Gütiger Gott … er war doch nur ein verfilmtes Theaterstück, eines Klassikers der Weltliteratur!

Und wäre die Realität, hätten wir sie sehen können, nicht viel brutaler gewesen?

*****

Viele Jahre später.

Eigentlich ein Tag wie immer, wenn ich meine Mutter besuchte. Ich weiß nicht, wie unsere Unterhaltung darauf kam, dass ihre Gedanken in die Vergangenheit drifteten. Aber plötzlich begann sie von der Zeit zu erzählen, als sie mit mir schwanger ging.

„Ich wohnte mit deinem Vater bei Oma, die Zimmer für uns übrig hatte. Die Stadt hatte nach den Fliegerangriffen nicht genügend Wohnraum für die Ausgebombten und die Flüchtlinge aus dem Osten, aber Omas Wohnung war zum Glück verschont geblieben. Eines Tages, als ich in der Küche Geschirr abtrocknete, sah ich dabei aus dem Fenster. Auf dem Haus gegenüber ging ein Mann über das Dach, langsam, immer wieder innehaltend, als suche er es nach Schäden ab. Als er weiterging, betrat er eine Planke, die nicht befestigt war und sich auf seiner Gegenseite hob. Sie nahm ihm das Gleichgewicht und kippte ihn über den Rand des Daches.“

Mutter hielt einen Augenblick inne. Ihre Augen waren nicht mehr bei mir, sondern in einer viel früheren, mir unbekannten Welt. Ich traute mich nicht, Fragen zu stellen, aber sie erzählte freiwillig weiter. „Ich war im sechsten Monat, und Oma ließ mich ins Krankenhaus bringen. Der Schock saß so tief, dass sie Angst hatte, ich könnte dich verlieren.“ Sie lächelte. „Wie du weißt, ging alles gut. Du warst sogar ein Spätzünder, wolltest diese schöne Welt einfach nicht sehen. Vierzehn Stunden lang hattest du mich die Wehen erleiden lassen, bis du deine Meinung geändert hattest.“

Das Lächeln verschwand. „Aber seit damals gehe ich mit diesem Mann schwanger, der mich nicht verlassen will. Den Todesschrei, als er in die Tiefe stürzte, habe ich für immer in den Ohren. Sie haben einen ganz besonderen Klang, so schrill, dass sie Glas zum Zerbersten bringen und gleichzeitig ein vollständig neues Universum erschaffen können.“ Sie hielt sich die Ohren zu. „Kind, ich kann es dir nicht besser erklären. Da ist etwas, das ich weiß und doch nicht weiß. Ich weiß nur, dass mir dieser eine Schrei genug war, um den Kosmos zu begreifen. Ein zweites Mal will ich ihn nicht hören.“

Da wusste ich, weshalb Mutter mir damals, als ich ein Teenager war, das Fernsehgerät mitten im Todesgeschrei eines wehrlosen Mannes ausgeschaltet hatte. Und weshalb ich oft aus Träumen hochschrecke, in denen ich dabei bin, in eine ewige Tiefe zu fallen.

22.12.2021
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.12.2021, 20:06   #2
männlich Ex-Lichtsohn
abgemeldet
 
Dabei seit: 03/2015
Beiträge: 1.493


Liebe Ilka-Maria,

Zitat:
Ich hatte einen guten Lehrer, Fachlehrer für Deutsch ..
Großartige Geschichte und wunderschön erzählt, konnte
mit dem Lesen nicht aufhören, die Schnitzel sind jetzt
schwarz ...

Alles Liebe
Ex-Lichtsohn ist offline   Mit Zitat antworten
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