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Alt 04.01.2023, 21:13   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Es war ein Sieg!

Mein Kollege Oliver war eine Frohnatur und aus jenem Holz geschnitzt, das Mädchenherzen anzog wie der Magnet im Arbeitszimmer eines Schneiders die verstreuten Stecknadeln. Wir waren beide Anfang zwanzig, er ein oder zwei Jahre älter als ich, und wir vertrauten so sehr einander, als seien wir als Zwillinge geboren worden und miteinander aufgewachsen.

Und so suchte Oliver meinen Beistand, als er vor der ersten wichtigen Gabelung seines Lebensweges stand: Welche seiner beiden großen Lieben sollte er heiraten? Erika oder Sigrid? Beide waren bildschöne, junge Mädchen, so seine Beschreibung, denn ich kannte weder die eine, noch die andere. Ich gab ihm keinen Rat, sondern ließ ihn reden, und da meinte ich herauszuhören, dass die Waage zu Erikas Gunsten gewichtete.

Ein paar Monate, nachdem Oliver und Erika geheiratet hatten, kam er an einem Montagmorgen mit einem Gesicht ins Büro, als sei er unter ein Kettenfahrzeug geraten: Ein Auge war zugeschwollen, die Braue darüber geplatzt, die Nase saß schief, und die linke Gesichtshälfte schillerte in den Farben von quittengelb über türkis bis pflaumenblau. Er pfiff vergnügt vor sich hin und grinste jedem, der ihn entsetzt ansah, in die Augen, als wolle er sagen: "Da staunste aber."

"Du hattest aber keine zufällige Begegnung mit Arnold Schwarzenegger?", fragte ich ihn, und stolz erzählte mir die Geschichte, die sich am Wochenende zugetragen hatte.

Samstag. Oliver hatte am Morgen die Zusendungen aus seinem Postfach geholt, gespannt darauf, ob eine Antwort auf seine Bewerbungen dabei war, denn er brannte vor Ehrgeiz, beruflich weiterzukommen. Mit der Post auf dem Beifahrersitz seines Manta fuhr er die Kaiserstraße entlang, und wie es der Zufall wollte, erblickte er auf dem Gehweg der anderen Seite Erika. Er zog die Brauen zusammen, als er gewahr wurde, dass sie energisch einen Mann abzuschütteln versuchte, der ihr auf Tuchfühlung folgte und auf sie einredete. Obwohl ihre Körpersprache eindeutig signalisierte, dass sie sich belästigt fühlte und es sich keineswegs um einen Beziehungskonflikt handelte, kam ihr keiner der Passanten zu Hilfe. Als dieser Ausbund an Impertinenz nach Erikas Arm griff, brannte Oliver die Sicherung durch: Er stieg in die Bremsen und ließ den Manta mit offener Tür mitten auf der Straße stehen. Augenblicklich ging ein Hupkonzert los, aber das floss ihm wie Wagners "Kampf der Walküre" durch die Gehörkanäle. Er flog förmlich unter den Kronen der Alleebäume hindurch, die auf dem Mittelstreifen der Straße standen, rannte den Gegenverkehr missachtend über die Fahrbahn und ging dem übergriffigen Kerl an die Kehle.

Es war ein ungleicher Kampf, denn sein Angriffsziel war ein Hüne und mindestens fünfzehn Kilo schwerer als er. Aber das war für Oliver in diesem Fall kein Maßstab. Hier ging es nicht um Optionen, sondern um die Verteidigung seiner Frau, und deshalb musste Erika aushalten können, mitanzusehen, wie Oliver gnadenlos zusammengeboxt wurde. Er nahm es in Kauf und setzte seine Kräfte ein, so gut er konnte, denn er wusste: Helden müssen nicht siegen, sondern bereit sein, für ihre Überzeugung zu sterben. Eher sollt man ihn mit der Bahre abtransportieren, als dass er sich kleinkriegen ließe.

Schließlich fanden sich doch ein paar Passanten, die dazwischengingen und die Streithähne trennten. Inzwischen war auch ein Streifenwagen eingetroffen, weil der Zentrale ein Stau auf der Kaiserstraße gemeldet worden war. Als einer der Polizisten sich der Kampfarena auf der anderen Straßenseite näherte, türmte der Hüne. Oliver lieferte seine Daten für den Bußgeldbescheid ab, den er zu erwarten hatte, und räumte auf Geheiß die Straße. Zusammen mit Erika fuhr er nach Hause und genoss den ganzen Sonntag lang ihre Bewunderung für seinen Heldenmut und ihre heilende Pflege seiner Belessuren. Seit seiner Kindheit hatte er sich nicht mehr so sauwohl gefühlt. "Es war ein Sieg", wusste er, "ein Sieg auf ganzer Linie!"

04.01.2023
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Alt 07.01.2023, 13:30   #2
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879


Liebe Ilka-Maria,
bevor ich auf deine Geschichte eingehe, melede ich mich als Korithenkacker:
"...junge Mädchen, so seine Beschreibung, denn ich kannte weder die eine, noch die andere."
Würden die Mädchen nicht erfordern, dass es "junge Mädchen, so seine Beschreibung, denn ich kannte weder das eine, noch das andere." ?
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 07.01.2023, 13:41   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
Beiträge: 31.087


Dein Einwand ist grammatikalisch zwar richtig, Heinz, aber es ist - so zumindest meine Information aus den Unterrichtsmaterialien über literarisches Schreiben - erlaubt, von Mädchen mit dem weiblichen Artikel weiterzuschreiben, da es nun mal keine Buben sind. In meiner Story hätte ich jedoch "junge Frauen" schreiben sollen, denn Mädchen sind das nicht mehr.

Was mich beim nachträglichen Lesen aber viel mehr stört, ist das Adjektiv "jung", das mir durchgerutscht, aber überflüssig ist. Zwar gibt es auch den Begriff der "alten Mädchen", aber das ist wohl eher ein Euphemismus für alte Schachteln.
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