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Alt 12.01.2023, 03:48   #1
männlich Deepxrest
 
Dabei seit: 10/2022
Ort: Mexiko Stadt
Beiträge: 10


Standard Pickenreiter

Ein Klopfen hallt über den Flur. „Dann geht’s wohl los, wer geht?“, fragt ein müdes Augenpaar das andere. Ein letzter Schluck des viel zu starken Kaffees und Hannes erhebt sich von seinem Stuhl. Es ist 06:30 am Morgen und das Klopfen bedeutet übersetzt, dass jemand auf die Toilette gehen möchte. Dieser jemand weiß genau, wann die Nachtwache geht und der Frühdienst beginnt. „Erstaunliche innere Uhr“, denkt sich Hannes, während er halb wach halb schlafend zum Ende des Ganges wandelt. Das kalte, helle Licht brennt ihn seinen Augen.
Er rettet sich in das dunkle Vorzimmer und öffnet zunächst die Türe zum Bad, geht hindurch und öffnet anschließend die Zimmertür. „Guten Morgen brauner Hannes“, hallt es mit tiefer Stimme aus einem pechschwarzen Raum, der außer dem Menschen darin nichts anderes enthält. Keine Möbel, keine Pflanzen, keine Bilder. Nicht einmal eine klassische weiße Wand. Sowohl Boden, als auch Wände waren gepflastert mit mausgrauen Fließen.
Hannes kommt eine Mischung aus drückender Hitze und schlechter Luft entgegen. Beides scheint ihn wieder nach draußen zu bitten, doch er bleibt entschieden stehen und antwortet: „Guten Morgen Martin, musst du auf Toilette?“ Im nächsten Moment steht er vor ihm. Ein 2 Meter großer Mann, kurze Haare, müde Augen und völlig nackt. Sie schauen sich an, Martin nickt und geht an Hannes vorbei Richtung Toilette. Martin hatte sein eigenes Bad. Statt grauer Fließen gab es hier weiße an den Wänden und schwarze auf dem Boden. Die Toilette, sowie Waschbecken und Duschhahn waren komplett silbern. Hannes fühlte sich stets an Dokumentationen von Hochsicherheitsgefängnissen erinnert. Die Insassen hatten ähnliche sanitäre Anlagen. Allerdings stand dort die Toilette meist neben dem Bett. Martin hatte den Luxus ein eigenes Schlafzimmer zu haben. Ein Bett hatte er jedoch nicht. Da gewinnen die Häftlinge.
Im nächsten Moment sitzen sich beide gegenüber. Martin auf der Toilette, Hannes im Vorzimmer. Dennoch halten beide Sichtkontakt. Sie kennen es nicht anders, sind es gewohnt. Eine alltägliche Situation indem nun die üblichen Fragen beantwortet werden. Martin weiß es meist schon, dennoch möchte er immer wissen wer noch im Dienst ist, welcher Tag es ist, welches Wetter sein wird, und welche Speisen serviert werden. Alles andere ist in Martins Welt nur wenig von Belang. Zumindest glauben jene das, die ihm jeden Morgen das Zimmer aufsperren. Und Ihn auch wieder einsperren. Alle glauben daran. Manche glauben, dass Martin es allein nicht schaffen kann. Wieder andere wissen es sogar. Gefragt hat ihn wohl nie jemand. Er gilt in dieser Welt als behindert, da er Verhalten zeigt, dass so gar nicht normal ist. Man hat dafür sogar ein Wort, ja einen ganzen Katalog erfunden: Verhaltensstörungen. Irgendetwas scheint ihn gewaltig zu stören, so hat er zum Beispiel den Drang alles zu schlucken. Martin hat schon zahlreiche Socken, Kleinteile, ja sogar einen ganzen Schuh hinuntergeschluckt. Aus diesem Grund hat er auch nichts im Zimmer. Zu jeder Zeit, in der er in seinem Zimmer aufhält, ist er nackt. Auf blankem Fließboden verbringt er die Zeit alleine mit sich und der Kamera, die an die Decke montiert ist. Heilung scheint es nicht zu geben. Die moderne Psychiatrie bekämpft gleiches mit gleichem. Martin schluckt jeden Tag unzählig viele Pillen. Gegen was? Das weiß niemand so genau. Hannes auf jeden Fall nicht. Die zuständigen Ärztinnen wahrscheinlich auch nicht. Interessiert auch keinen. Martin hat keine Familie, hatte nie eine Familie. Er kam als Kind in ein Wohnheim und hatte Betreuer, die alle Jahre verschwanden. Manche blieben vielleicht auch länger. Einige wenige würde er vielleicht Freunde nennen. Die Gesellschaft bietet ihm die Mindestvoraussetzung zum Leben. Im Gegenzug soll er dann aber auch zufrieden sein, seine Pillen nehmen und keine Arbeit verursachen. Nicht auffällig sein.
„Immerhin hat er doch alles, was er braucht“, spricht Hannes zu sich selbst und glaubt sich im gleichen Augenblick kein Wort. Sein nächster Gedanke fällt auf Kasper Hauser und er kann sich nicht davor schützen Parallelen zu Martin zu ziehen. Beide waren angeblich geistig zurückgeblieben, redeten wenig bis gar nicht und lebten lange Zeit in Dunkelheit. „Ganz so schlimm ist es nun auch nicht“, wehrt sich Hannes in Gedanken, „immerhin ist er schon ab und an draußen.“ Dabei vergisst er wohl mehr oder weniger absichtlich, dass der junge Kaspar Hauser mit 16 Jahren der Dunkelheit entflohen ist und vielleicht sogar ein Prinz war. Martin jedoch ist kein Prinz. Er ist 45 Jahre und wird der Dunkelheit und Isolation nur durch den Tod entfliehen können.
„Braune Hannes, dusche? Braune Martin kann dusche?“, fragt Martin und rettet Hannes aus den Gedanken. Seife, Shampoo und Waschlappen werden übergeben. Während er Martin auch beim Duschen beobachten muss, eine Dienstanweisung, verliert er sich wieder in Gedanken. „Es muss schrecklich sein zu jeder Zeit beobachtet zu werden, und es geht hier nicht um die stetige gefühlte Überwachung jedes einzelnen durch soziale Medien und Co. Nein wir überwachen ihn jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Sowas muss doch verrückt machen. Doch meist scheint er gar nicht verrückt. Meist schläft er oder sitzt an der immer gleichen Stelle. Den Kopf in den Armen, leicht schaukelnd mit dem Oberkörper. Wieso spricht er wohl von sich selbst in der dritten Person?“, grübelt Hannes und reicht ihm ein Handtuch. Da muss er sich eingestehen, dass eigentlich mehr über Martin, als mit ihm gesprochen wird. Wahrscheinlich hat er es einfach übernommen. Während dieser sich abtrocknet geht Hannes hinüber zum Schrank.
Einer der seltenen Momente in denen Martin tatsächlich nicht beobachtet wird. Wenige Augenblicke von Privatsphäre. Vom Entspannungsgrad wohl vergleichbar wie jener Moment, indem der Lehrer bei einer Klassenarbeit kurz aus dem Fenster schaut und alle Schüler mit dem Abschreiben beginnen. Hannes kommt wieder zurück und beginnt ihm die einzelnen Kleidungsstücke zu reichen. Dabei fällt ihm wieder Mal die Statur von Martin ins Auge. Ein großer Mann, muskulös, übersäht mit unzähligen Narben. Er erinnert sich an Fotos, die er gesehen hatte als er noch jung war. Ein athletischer Bursche, keine Narben, volles Haar, aufrecht und stolz. Heutzutage ist es anders. Das Schlafen auf dem Boden hat ihm einen Buckel verschafft. Über die Jahre hat er begonnen sich selbst zu verstümmeln, warum ist unklar. Das Verlangen alles zu schlucken hat sich entweder auf seinen eigenen Körper übertragen oder das Einverleiben des Eigenen Selbst ist Ausdruck etwas höherem. Das weiß niemand. Und es ist wohl auch für alle besser, wenn es so bleibt. Er wirkt wie ein alter Löwe, der bald sein Rudel verlassen muss. Nur noch die Narben erinnern an seine glorreichen Zeiten.
„Lass uns gehen“, ruft Hannes und beide stehen auf. Sie gehen gemeinsam den Gang hinunter und stehen im Gruppenraum. Es gibt eine Küche mit Tresen. Einen großen Esstisch, daneben der Schrank mit den Medikamenten. Das meiste sind sehr starke Beruhigungspillen, einige Antidepressiva. Martin setzt sich auf seinen Sessel in der Nähe des Fernsehers. Dort gibt es weitere Sofas. Fast schon wohnlich. Hannes erinnert sich, dass Martin vor einigen Wochen das große Bild, was hinter ihm an der Wand hing, zerstört hatte. Er stand aus dem Nichts auf, riss es von der Wand und nach wenigen Sekunden war es nur noch Fetzen. Der erneute Beweis und Legitimation für alle „Normalen“, dass er nicht alle Tassen im Schrank hatte. „Vielleicht hat es ihm auch einfach nicht gefallen. Es war eins dieser unsagbar hässlichen Riesenbilder eines bekannten Möbelhauses. Wenn du fast den ganzen Tag Dunkelheit oder Grau siehst, ist es zu viel verlangt dir auch noch so eine Scheiße anzusehen. Da sitzt du endlich mal bequem und hast die Skyline New Yorks oder eine Hängebrücke vor den Augen. Unerträglich“, schmunzelt Hannes. Er ist schon fast stolz auf Martin.
Und nun kommt er: der Kollege. Sie waren immer zu zweit im Frühdienst. Hannes hasste ihn, nannte ihn Polizist oder Schließer. Berufe, die mit Menschen zu tun haben, ziehen solche Charaktere an wie der Mist die Fliegen. Jene, die es lieben über andere Macht auszuüben und keine Situation auslassen es zu demonstrieren. Dies war der perfekte Ort. Hier gab es kein Gesetz. Sie entschieden über 6 Individuen, jeden Tag und jede Nacht.
Ihr wollt aufstehen? Fragt um Erlaubnis! Ihr wollt duschen? Fragt um Erlaubnis!
Ihr wollt essen? Fragt um Erlaubnis! Ihr wollt aus dem Haus? Fragt um Erlaubnis!
Und fragt am liebsten gar nichts. Das macht ja doch nur Arbeit. Denn die normalen Menschen haben eure Schlüssel, euer Geld, eure Freiheit und euer Leben.
Sein Kollege wusste das. Und jeden Dienst ließ er es auch die Bewohnerinnen wissen. „Na wirst du heute etwas zerstören Martin?“, fragte er provozierend aus der Küche. „Schau zu, dass du zumindest das Frühstück schaffst!“ Hannes hasste es, wenn er so mit den Leuten sprach. Nicht, dass er nicht auch manchmal befürchtete, dass etwas passierte, doch diese direkte Unterstellung machte ihn wütend. Er ging hinüber zum Tresen und fragte: „Manchmal glaube ich Martin setzt sich selbst unter solch hohen Druck nichts zerstören zu wollen, dass er irgendwann einfach explodiert. Denkst du auch?“ „Ach Quatsch, der ist einfach so. Ich denke er kann das sogar kontrollieren. Deshalb erinnere ich ihn auch daran es ist nicht zu tun“, antwortete der Polizist. Hannes hatte es abermals versucht. Und abermals scheint sein Kollege nicht empfänglich für andere Erklärungen. Hannes hasste Bullen, hasste Menschen die andere kontrollierten und bereit waren zu bestrafen. Er hatte in seinem ganzen Leben noch von keinem Polizisten gehört, der sich einmal freute, wenn er kein Verbrechen feststellen konnte. Wenn Menschen keine Gesetze brachen und sich daranhielten. Beim Suchen von Problemen sind sie schon längst Teil desgleichen geworden. So wie sein Kollege. Für Hannes war er der Verrückte. Durchgeknallter als Martin, gefährlicher als die Bewohnerin, die Hannes vor einigen Monaten in den Oberarm biss. Ja Hannes hasste ihn. Und er hasste sich selbst. Denn auch er war Teil dieser Maschinerie, die Menschen an den Rand der Gesellschaft trieb, ihnen jeden Tag aufs Neue die verquere Wahrheit eintrichterte. Warum und wozu das ganze fragt, doch schon lange keiner mehr. Der Leitgedanke seiner Firma war offiziell geprägt von Menschlichkeit. Ja auch das noch. Doch inoffiziell lag alles einer simplen Gleichung zugrunde: Bewohner bringen Geld, Mitarbeiter kosten Geld. Je weniger Mitarbeiter eingestellt werden und je weniger ausgegeben wurde, desto mehr Geld bleibt für die eigenen Taschen jener die delegieren und im flammenden Rot aus Barmherzigkeit und Mitgefühl baden.
„Hast du denn keinen Hunger? Heute gibt es doch sogar Brötchen.“, hört Hannes und wird aus seinen Gedanken gerissen. „Ich habe keinen Hunger. Ich bin satt“, antwortet er, steht auf und sieht hinüber zum Schließer. „Wie jetzt? Du hast doch noch gar nichts gegessen?“, fragt dieser sichtlich verwundert. „Vielleicht werde ich später etwas essen, entschuldigt mich. Er schaut Martin lächelt an, nimmt seinen Schlüsselbund ab und gibt ihm diesen in die Hand. Ohne Worte verlässt Hannes den Gruppenraum und geht den Gang hinunter. Er geht durch den Vorraum und das Bad in Martins Zimmer, schließt hinter sich die Tür und setzt sich mit dem Rücken an die Wand. Genau an dem Platz an dem Martin immer sitzt. Bei vollkommener Dunkelheit schaut er in die Kamera und winkt. „Die müssen glauben der braune Hannes sei verrückt geworden“, spricht er sich zu. Danach lässt er den Kopf in die Arme fallen, schließt die Augen und beginnt leicht mit dem Oberkörper zu schaukeln.
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