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Alt 01.12.2022, 02:14   #1
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Standard Budyšyn - in Verse gesetzt: Bautzen II

Vorwort

Es war ein gewagtes Unternehmen, meinen Freunden an der Zensur des Staatssicherheitsdienstes vorbei Erlebtes, Erlittenes, Ersehntes und Erkenntnisse im Zuchthaus Bautzen II mitzuteilen. Mitzuteilen in Briefen, von denen nur drei pro Monat, anfangs auf einem einseitig beschriebenen A-4-Blatt, später wegen „guter Führung“ auf einem beidseitig beschriebenen, erlaubt waren. War die Schrift zu klein, wurde der Brief nicht abgeschickt, waren dem Zensor irgendwelche Wörter nicht geläufig, passierte dasselbe. Ein Beispiel: Die Aufforderung, dem Staatssekretär im bundesdeutschen Innenministerium namens Huonker mal ein bisschen Feuer unter dem Hintern zu machen, war Anlass genug für den Stasi (Staatssicherheitsdienst), den Satz rot zu markieren und den Brief nicht zu befördern. Nicht etwa, weil so eine Aufforderung der Etikette widersprach, sondern weil der Kontrollierende statt „Huonker“ verstanden hatte, man möge dem Staatsratsvor-sitzenden Honnecker Feuer unter den Allerwertesten machen.
Dass meine Frau, meine Tochter und meine Freunde fast alles verstanden hatten, was ich da verklausuliert und oft ins Gegenteil verkehrt mitteilte, habe ich erst nach meiner Entlassung erfahren. Mir hat es natürlich ein diebisches Vergnügen gemacht, den Stasi zu veräppeln, die selbst Verse wie „du dreifach dummer Riese“ nicht als Veräppelung der DDR erkannten. Du Dreifach dummer Riese ging anstandslos durch die Zensur - voila - auch der Stasi kochte nur mit Wasser. Den geschätzten Lesern und Leserinnen meiner epischen Erzählung in Versform „verrate“ ich, was eigentlich mit meinen Versen gemeint war. Allen, die vor der Länge nicht zurückschrecken, meine Hochachtung!


Budyšyn - in Verse gesetzt: Bautzen II

Saphirhimmel - hochgespannt,
weites Meer und Möwenschreie,
Purputrauben, Reih an Reihe,
roter Wein und goldner Sand:
So lieb ich mein Griechenland.

Ich fahre hin, genieße stets aufs neue,
erschauernd heilgen Boden still zu grüßen.
An Hammelbraten, Himmelsbläue
erquick ich mich und samtnen Nächten,
die göttlich schöne Braungelockte mir versüßen.


Die ersten beiden Strophen - eine Huldigung an Griechenland, wo ich meinen letzten Urlaub vor der Verhaftung verbrachte. Verhaftung? Verhaftet und zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt mit ausdrücklicher „Genehmigung“ durch den berüchtigten Mielke und den Vorsitzenden des Staatsrates und der SED Erich Honecker, wurde ich nach sechsmonatiger Einzelhaft in Berlin Hohenschönhausen vor dem Obersten Militärgericht der DDR und nach weiteren vier Monaten Einzelhaft, in der weitere Vernehmungen stattfanden. Im Juni 1980 erfolgte die Verlegung in das Stasi-Zuchthaus Bautzen II. Dort wurde ich einem Arbeitskommando zugeteilt und hatte in achteinhalb Stunden täglich (Samstags und sonntags war arbeitsfrei) Elektroteile zusammen zu bauen. Am 8./9. Mai 1982 wurde ich dann gegen hochkarätige Agenten der DDR, die in verschiedenen Ländern des Westens ihre Strafen verbüßten „ausgetauscht“. Zuhause angekommen wurde das Urteil als unrechtmäßig aufgehoben, ich bekam nicht nur eine Entschädigung, sondern auch die Möglichkeit nach sechs „Urlaubssemestern“ mein Studium fortzusetzen und zu beenden und, verzeiht, wenn ich stolz darauf bin, als erster politischer Häftling das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam. Der „Absturz“ vom „Saphirhimmel" Griechenlands, den „erquickenden, samtnen Nächten und weinseligen Vergnügungen mit „göttlich schönen Braungelockten“ war ein herber Schlag ins Kontor. Und wie sah die Realität ab Juni 1980 in Bautzen aus?

Safrangewandet erwachte am ersten Morgen die Sonne
Griechenlands und vergoldete prächtig meine Mansarde.
Duftende Lüfte strömten durchs weit geöffnete Fenster.
Schattende Bäume des Parks hinterm Hause labten die Augen,
dunkles Grün umrahmte das Strahlen glänzenden Steines,
- schade, nicht gänzlich sichtbar von meinem Fenster das Kunstwerk,
sicher von meisterlich kundiger Hand geschaffen aus Marmor - .
Waagrechte Äste üppig belaubter Bäume voll reifender
Feigen und senkrecht ragende Stämme im Boden verwurzelter
Eichen versperrten störend den Blick der spähenden Augen.
Weibliche Reize zu ahnen vermochten die gierenden Sinne;
alles zu sehen setzt ich zum Ziel mir, verschob es auf später.

Die Sonne über Bautzen war dieselbe Sonne wie die in Griechenland, sichtbar nur durch verdreckte Scheiben meiner Zelle, ich nenne sie „Mansarde“, weil ich im obersten Stockwerk eingesperrt war. Die „duftenden Lüfte“ bestanden aus stinkenden Braunkohle-Heizungsschwaden und natürlich gab es keine „schattenden Bäume“, kein „dunkles Grün“. Das „Kunstwerk“ war verborgen hinter den von außen weiß gestrichenen Fenstern der schräg gegenüberliegenden Frauenzellen. (Die inhaftierten Frauen waren meist zu zweit oder zu dritt in einer Zelle eingesperrt und hatten netterweise Teile des Fensteranstrichs abgekratzt, um uns einen kleinen Einblick in ihr Intimleben zu gestatten. Die senkrechten Stämme und waagrechten Äste - na, wer errät es? - waren die Gitter vor den Fenstern.

Lahmer Bube,
verlass die Stube!
Bis Parkes Mitte -
hundert Schritte!
Dort wirst du sehn,
wie sie da stehn,
die göttlichen Weiber;
so kunstvoll geschaffen
die marmornen Leiber!
Kannst stundenlang gaffen,
merkst nebenbei:
es sind ihrer drei.


Geraschel der Blätter?
Geflüster der Götter?
Ich soll einfach gehen,
von nahem zu sehen
was Künstlerhand schuf?
Folg ich dem Ruf
in gieriger Eile?
Genuss heischet Weile!
Zügelts Sehnen,
ihr marmornen Schönen
da unten im Garten!
Es wachsen die zarten
Gefühle beim Warten.


Die beiden Strophen „Lahmer Bube...“ und „Geraschel der Blätter...“ sind fantasiegeprägte Vorstellungen. Richtig ist, dass die Frauenzelle, die in Luftlinie gemessen meiner Zelle am nächsten lag, war von drei Frauen belegt.


Des schmackhaften Frühstücks lieblicher Duft,
erobert die Nase, er schwängert die Luft.
Doch selbst der Kaffee, griechisch stark,
er hindert nicht verstohlne Blicke:
Sie wenden sich erneut zum Park.

Das „schmackhafte“ Frühstück ist natürlich ein Witz. Das Essen insgesamt war vitaminarm und langweilig, frisches Obst - was ist das denn? Hin und wieder gabs einen Apfel. Butter und Eier, Schokolade, Kuchen und ähnliche Genüsse konnten wir im „Konsum“ (eine zur Verkaufsstelle umgebaute Zelle im Keller des Gebäudes) von unserem Arbeitsverdienst kaufen, auch „Westzigaretten“ zum damals horrendem Preis von acht Mark, Eier, Schreibpapier, Rasierwasser und ähnliche Kleinigkeiten konnten ebenfalls erworben werden. Das einzige was duftete, war der selbst aufgebrühte Kaffee (der uns bei einem der seltenen Besuche mitgebracht wurde).

O Bäume weichet! Äste, schwindet!
Öffne, Blattwerk, eine Lücke!,
damit mein Auge alles findet,
was jetzt nur stückweis, torsohaft,
mir Qual und Pein der Neugier schafft.

Doch ich gebs zu, was halbgeschürzt,
und sei's auch nur durch Baumes Äste,
die Gier der Sinne hräftig würzt:
Das dünne Hemd, es schenkt uns wahre Feste!
Es jubelt jedes Hirns Synapse
über Schleier, Slips und Strapse,
die Sucht durch Suche noch vermehren
und prompten Zugriff zart verwehren.
Ist's Unnatur? - Ich muss gestehn:
Das Ahnen ist doch gar zu schön!
Das Finden, das ersetzt doch nie
den Reiz der eignen Fantasie.

Es machte uns doch glatt verrückt,
sähn wir nen Pfau, der ungeschmückt
von Federn nackt herum stolziert.
Allein der Umstand dass er friert,
ließ schaudernd uns zu Göttern flehen,
den Pfau mit Federn zu versehen.


Die letzten drei Strophen - was soll man da groß sagen? Ich war, wie alle männlichen Insassen, die keine DDR-Bürger waren, allein in der Zelle. Da wir entweder in Frühschicht (von sechs Uhr morgens bis 14.30 Uhr) oder Spät-schicht (15.00 bis 23.30 Uhr) arbeiten mussten und die Möglichkeit des „Umschlusses“ (Umschluss war die zeitweise Genehmigung, mit einem oder zwei anderen in einer Zelle zu verbringen, um z.B. Skat zu spielen) hatten, empfanden wir die Belegung einer Zelle mit einem Mann nicht als Einzelhaft. Man war manchmal froh, wenn man nach achteinhalb Stunden gemeinsamer Arbeit und der „Freistunde“ im Hof unter freiem Himmel seine Ruhe hatte. Abends durften wir nach Antrag und Genehmigung in die Glotze gucken (in einer etwas größeren Zelle und selbstverständlich nur genehmigte Programme des DDR-TV). Zwei weitere Möglichkeiten waren 2 bis 3 Stunden „Musikvor-träge“ sonntags und 2 - 3 Stunden „Literaturnachmittage“, ebenfalls sonn-tags. Diese Stunden hatte ich beantragt und durfte nach Vorlage eines Veranstaltungsplans an einem Sonntag Musik machen (Schallplatten auflegen) am darauffolgenden Sonntag über Literatur sprechen (auch mit Einspielen von Texten von Schallplatten). Bemerkenswert war, dass die „Programmwünsche“, sei es hinsichtlich der Literatur oder der Musiktitel, ganz eindeutig zu klassischen Werken tendierten. Ein Leckerbissen war die TV-Übertragung der Leipziger Aufführung der Faust-Tragödie (ich glaube mich zu erinnern, dass „Faust“ zur Neueröffnung des Leipziger Theaters übertragen wurde und einigen hart gesottenen Lebenslänglichen bei Fausts Antwort auf die Gretchenfrage die Tränen herunter liefen. Die „Krönung“ war das Verbot einer Weihnachtsfeier im Jahr 1981. Anstelle einer Weihnachtsfeier wurde meinem Antrag auf einen zusätzlichen „Musikvortrag“ stattgegeben. Zu dem Musikvortrag gehörten auch Rezitationen von Gedichten. Ich sollte den „Prometheus“ von Goethe vortragen (seitdem kann ich ihn auswendig). Es war wohl mein unüberhörbares Organ, was zu einer Unterbrechung führte, aber die Begründung ließ uns aus dem Lachen nicht heraus kommen: „Strafgefangener K., es ist ihnen nicht gestattet worden, reaktionäre Texte vorzutragen!“

Nun Augen, seht! - Da habt ihr euer Fest:
Verborgen zwar von Baum und Blatt der Rest,
schenkt das Wechselwerk des Zufalls
freien Blick auf Haupt und Hals.
Zephyrs lauer, duftger Hauch
streichelt offenbar mit Lust
eine wohlgeformte Brust,
sanfter noch nen weißen Bauch.

Sacht gewölbt, gar lieblich fein,
nicht fern des Nabels, Dank o Sonne!,
erglänzt in deinem hellen Schein,
ähnlich einem goldnen Vliese,
die traute Walstatt der Liebeswonne.
Doch plötzlich seh ich nur noch Füße.
Hab ich im Verein mit Göttern
den weißen Marmorleib beseelt,
erweckt zum Leben? - Weit gefehlt! -
Busen, Bauch und Beine warn von Blättern
bedeckt, versteckt, und bald gefunden
haben trunkne Augen jene feine
Krause oberhalb der der Knie am Rendezvous der Beine.

Dreie sinds, die weiß und bloß,
marmorn, griechisch, göttlich, groß,
meine Blicke auf sich lenken.
Ich hör die Order an Priams Sohn:
Du sollst den Apfel der Lieblichsten schenken!
(Jede versprach ihm den reichlichsten Lohn).
Wär es nicht reizend, so bild ich mir ein,
könnte auch ich mal Paris sein!?

Die letzten drei Strophen, auch die folgenden, sind eine Hymne an die drei Frauen in der Zelle im Frauentrakt. Die drei machten sich einen Spaß daraus, uns Einblicke in ihr Intimleben zu verschaffen. Sehen konnte man nicht sehr viel, denn die Scheiben waren ja nur zum Teil von dem weißen Anstrich frei gekratzt. Dem Gerücht, dass Strafgefangenen „Hängolin“ ins Essen gemischt wird, muss ich an dieser Stelle widersprechen. Wir haben uns jedenfalls artig bedankt. Wie das? Nun, die Frauen waren in Besitz von weißen Schutzhandschuhen (für die Arbeit mit cadmierten - mit Cadmium versehenen Teilen, die sie zusammensetzen mussten). So waren die Hände der Damen auch bei Dunkelheit zu sehen. Ganz dunkel war es sowieso nie, weil die Außenwände immer in Licht getaucht waren. Wir hatten uns auch solche Handschuhe besorgt und so konnte man sich per Zeichensprache „unter-halten“. Wenn drei behandschuhte Damenhände aus dem oberen Klappfenster ragten und die Buchstaben „morsten“, war das ein Anblick, den ich nie vergessen werde.

Wars nun Aphrodite, die ich erkannt
am steinernen Vlies von Meisterhand?
Oder wars Zeus Tochter, Athene genannt?
Nach prüfenden Blick auf den Jungfraukörperbau
wars auf keinen Fall Hera, des Donnerers Frau,
die ewig betrogene Gattin des olympischen Gottes.
Ach glaubt mir, fern jeglichen Spottes
send ich der Hübschen griechische Grüße,
ruf "Rolaka" und küss ihr die Füße
und schau schon wieder auf jene süße,
gekräuselte marmorne Rose --- jetzt trägt sie `ne Hose ---!
Nein - nur wandernder Wolken Beschattung
malte auf Schenkel und Ort der Begattung
ein dunkles Gebilde, Hosen sinds keine,
was da bedeckte die göttlichen Beine.


"Rolaka" eigentlich "Karola". "Traute Walstatt" eigtl. Waltraut. Die besonderen Umstände zwangen mich zu dieser Buchstabenverdrehung. Auf jeden Fall: Zuhause konnten meine Freunde erfahren, dass eine Karola X und eine Waltraut Y mit einer dritten, nämlich Petra Z. in Bautzen inhaftiert waren.


Den weiteren Tag verbracht ich, die kühlende Brise vom Meere
auf kaum gebräunter Haut wohltuend spürend, am Ufer
Poseidons Reiches, trank die glutenden Strahlen der Sonne
und teilte kraftvoll als kundiger Schwimmer die rauschenden Wogen.
Spät, als die feurigen Rosse eilenden Hufes gen Westen
den schimmernden Sonnenwagen zogen und Orions Auge
aufglänzte, wandte ich dem bleiernen Meere den Rücken,
lenkte heimwärts die Schritte, überließ dem boitischen Nimrod
allein seine ewige Verfolgung der Töchter des titanischen Atlas,
die zum Kummer Pleiones der zürnende Zeus zum Sternbild gewandelt.
Beim schäumenden Weine genoss ich schläfrig entspannt die Kühle
des sternreichen Abends, erwartete des Mondes wandelnde Scheibe,
die rund und glänzend am Himmel das Dunkel silbrig erhellt.

Blätter wispern,
leise, leise
weht der sanfte Abendwind;
bringt der Blumen Düfte hin zum Meere.
Sterne flimmern,
melodischen Klanges kündet die Nachtigall
die rechte Stunde
verliebten Geflüsters und raschelnder Seide.
Majestätisch betritt der Nächte Silberkönig
seine Bahn.
Feuchte Küsse schenkt er Blumen,
deren Blüten halbgeschlossen, liebestrunken
sie erwidern.
Voller Träume und Gedanken,
Liebesseufzern,
Leid und Weh,
Hoffnung auf den nächsten Tag
ist das Zauberreich der Elfen.
Feen und Hexen,
Gnome, Riesen
herrschen nun bis morgen früh.
Schlafe, schlafe ...
leise,
leise wispern Blätter.

Seh ich eine Göttin winken?
Ihre Hand bewegte sich!
Sollt ich keinen Rotwein trinken,
oder ists ein Sonnenstich?
Doch ich schwöre: Auf und nieder
winkt die Hand der Dame wieder.
Narrt mich nächtger Geisterspuk?
Übt ein Troll erneut Betrug?
Kaum noch trau ich meinem Sinn, -
Marmor kann sich nicht bewegen!
Sollte mich zu Bette legen,
aber ich schau noch mal hin.
Da ... schon wieder ...,
zwischen Blättern und Geäst
winkt mir Kypris Gruß und Kuss!
Ach, - lachend ich erkennen muss:
Eine Taube wählt zum Nest
die Hand der Schönen für die Nacht.
Vom Olympos donnernd lacht
die gesamte Göttergilde.
Doch ich ahne, süß und milde
lächelt Kypris Aphrodite.
Ich entschlummre sanft und müde,
sinke tief in Seidenkissen,
träum von Liebe und von Küssen.

Weh! Es zerbricht in viele Teile,
was ein Phidiasenkel schuf.
Schrecken! Grauen!
Köpfe rollen, Arme fallen, Beine blinken,
schimmern bleich im dunklen Gras.
Mond, zerspringe!
Sterne, sterbet!
Meister, Meister,
habs verschuldet, ängstige mich und weine heftig.

Nur kurze Frist vergönne, o Meister,
und deine Vergebung dem weinenden Schüler!
In mühvoller Arbeit will ich
den Fehler berichtigen,
den ich unschuldig-schuldig gemacht.

Das Bildnis der Göttinnen, von deiner Hand befreit
aus Marmorfels, o Meister, so vollkommen geschaffen,
dem Schüler zerbrach es, der unkundig, voll Eifer
und in eilender Hast, ohne Anleitung des Lehrers,
seinem geliebten Meister zur Ehre und freudgen Überraschung zugleich,
auch den staunenden Blicken kunstsinniger Menschen,
das Bildnis der Göttinnen aufrichten wollte im Park.

Auf mich gehört! Die nutzlosen Tränen fort!
So klingt durch mein Schluchzen des Meisters befehlendes Wort:
Füg sorgsam wieder zusammen, was du zerbrochen!
So hat der Meister zu mir gesprochen.

Im Dunkel beginne ich stolpernd die Suche mit spähenden Augen,
ertaste mit fahrigen Händen verstreute Arme und Beine.
Erinnerung hilft den Sockel richtig zu setzen, doch dann
verweigern geschmeidige, herrliche Waden mir schon den Gehorsam.
Die Schenkel, vollendet geformt, vermehren wie immer die Mühe,
und ratlos, verzweifelnd, setz ich die begonnene Arbeit fort.

Die letzten Strophen sind Traumerlebnisse und die folgende Strophe „Welcher Göttin...“ ist der Versuch, mit dem „Goldenen Schnitt“ einen Text zu gestalten. Zählt man alle Wörter des Textes zusammen und multipliziert man die Summe der Wörter mit 0,618 und schaut sich das Ergebnis an, kommt man zu dem Wort „Nabel“ - und der liegt bekanntlich im Goldenen Schnitt. Eine Spielerei, die ich bewusst bei manchen Gedichten verwendet habe.
Die folgenden Strophen - Träume, Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen und Lebensweisheiten.


Welcher Göttin diese Füße, diese Zehen, jene Knöchel?
Taste weiter, suche, - finde Waden; wähl bedächtig wie am Strand
ein Knabe Muscheln, setz sie prüfend da- und dorthin,- ach! Dreier
Frauen Einzelteile zu bestimmen, einzufügen: Schier unmöglich!
Dort im Grase eine schlanke, guterhalt`ne weiße Wade; welches Knie
bindet sie an welchen Schenkel? Beine sind sehr bivalent.
Die gewünschte Stellung einzunehmen, sträuben sich der Pallas Schenkel wohl zumeist.
Finde feingeformte Finger, fühle, wie die flachgewölbte Mulde
einer kühlen Hand sich der eignen fiebrig-heißen anschmiegt.
Ein zerbrochner Unterarm
verbirgt den Blicken einen krausbelockten Hügel; greife zu ...
ein Bäuchlein find ich, wohlgeründet, schön geglättet, doch ein allerliebster
Nabel,
einem Salbennäpfchen gleicht er, zeigt,
wie meisterhaft der Meißel
außer Ellenbogen, Armen, auch dies Bäuchlein nachgestaltet.
Zarte Knospen runder Brüstchen
streifen meine Finger -oh!- nicht nur die Lippen schwellen mir zum Liebesspiel.
Schultern gilt es einzusetzen, alabasterfarbne Hälse
machen mir schon kleinre Müh. Stolze Nacken stürzten nieder,
tragen bald die richtgen Köpfe. Lächelnde Lippen, klassische Nasen,
sternhelle Augen, prachtvolle Locken endlich eingefügt:
Es ist geschafft!

Schau nun an, was ich vollbrachte;
Meister kam und ... Meister lachte:
Junge, Junge, glaub! - Du musst
doch noch eine Menge lernen.
Hier, zum Beispiel diese Brust
musst du wieder flugs entfernen.
Die passt nur zur Göttermutter!
Jenes wollne Vlies ... Athene!
Bei Kypris, komisch, alles in Butter.
Du bist wohl verliebt in die Schöne?

Dieses Wort hat mich erschreckt!
Lieb ich denn ein steinern Weib?
Hab zwar manchen Reiz entdeckt
an dem göttlich-schönen Leib,
spür im Herzen süße Triebe,
`s kann auch weiter abwärts sein,
ist das wirklich wahre Liebe
zu dem Weib aus Marmorstein?
Ich umfang sie liebeslüstern,
beginne gemeißelten Ohren
irres Liebeswort zu flüstern,
ach! Ich hab mein Herz verloren.

Die Umarmung - ziemlich kühl.
Marmor mangelts an Gefühl.
Dennoch greif ich liebestoll
um die Taille - wespengleich -,
so, wie man wohl packen soll,
und dann gleich der nächste Streich:
Greife kühn, ... ja grade so,
an den marmorkalten Po,
frag erst gar nicht, ob sie 's mag.
Plötzlich krachts, ein dumpfer Schlag!
Fing eben an, verliebt zu lallen,
da bin ich aus dem Bett gefallen.
Troll, der Schalk des Oberon,
hat auch mir wie andern schon
Eselsohren aufgesteckt,
mich mit Gelächter aufgeweckt.

Aber jetzt, da es tagt und die rosenfingrige Eos erwacht,
kehrt kühler Verstand mit Macht ins traumschwere Hirn zurück.
Freuds Schülern vermach ich den seltsamen Traum, sie mögen ihn deuten.
Ich selbst ermuntre nach köstlichem Frühstück die willigen Füße
zum Parke zu schlendern, um die marmornen Göttinnen endlich zu sehen.

Ergriffen steh ich vor des Phidiasenkel Schöpfung,
seh mein Traumgebild wahrhaftig. Zu umfangen
treibt es mich. Trinkt ihr Augen! Schwelgt, ihr Sinne!
Macht zu eigen, was schon immer still im Busen
von Natur gesät geschlummert, ahndungsvoll
der Erweckung lange harrend, endlich aufblüht.

Dem Schönen vermählt ist unsere Seele! Alle Sinne
dienen nur dem einen Ziel: Zu erinnern
an den Ursprung allen Seins. Ihn zu finden,
heimwärts gehend, irrend, doch beständig wandernd,
gibt alles Schöne Pfade weisend unserer Suche,
niemals trügend, stets die rechte Richtung an.

So wie eine Rosenknospe sich entfaltend wächst,
errötend und prächtiger blühend der Sonne Kuss empfängt,
dehnt die Seele ihre Fesseln, füllt und fühlet
neue Räume, reift zur Höhe, mit offnen Augen
vormals Ungeschautes nun erblickend, ahnt sie
der gesamten Schöpfung Größe, Gottes Allmacht.

Meine Sinne sind gebannt,
Augen schauen unverwandt
auf zu Hera und Athene,
zärtlich streicheln sie die schöne
Liebesgöttin Aphrodite.

Seidenweich der weiße Marmor,
sonnenwarm das schlanke Bein, -
weiter reich ich nicht empor.
Bin wohl doch ein wenig klein
neben Kypris Aphrodite.

Auf den Sockel rasch gestiegen,
scheu die Lippen aufgedrückt,
fühl der Erde mich entrückt,
kriege Flügel, möchte fliegen!
O du schöne Aphrodite!

Langsam kehrt Verstand zurück,
im Arm der Göttin einen Blick
werf ich durch den stillen Park.
Ein jäher Blitz trifft Bein und Mark:
Ich bin im Parke nicht allein!

Ein Mädchen dort im Sonnenschein
genießt die Stille der Natur.
Schick gekleidet, die Figur
formidable; dunkle Haare
trägt der wunderhübsche Fratz,
zählt wohl fünfundzwanzig Jahre
und hat diesen ruhigen Platz
gewiss zum Sonnenbad erkoren.

Die Augen - blau? Ein wenig verloren
wirkt der Blick, der nicht entdeckt
mich ollen Spanner, - den versteckt
liebevoll die Aphrodite.

Soll ich noch hier oben bleiben,
weiter das Versteckspiel treiben? -
Bevor ich richtig mich besonnen,
hat die Maid auch schon begonnen
ihre Bluse aufzuknöpfen.

Schon fliegt das blütenweiße Shirt,
ich komme kaum zum Atemschöpfen!,
zur blauen Bluse. Ausgedörrt
ist mir Kehle, Gaumen, Mund.
Brüstchen hüpfen prall und rund,
sie dreht sich um, ihr nackter Rücken
bereitet ebenfalls Entzücken.

Vermeidend, das Mädchen zu erbosen,
huste ich, bevor es Hosen,
Schuhe, Strümpfe und so weiter
von sich wirft, benutz als Leiter
respektlos Heras Oberschenkel.
Doch weiter, als sei nichts geschehn,
löst der Schatz der Schuhe Senkel,
kaum wage ich noch hinzusehn.

Verweht der Strümpfe seidner Hauch,
zarte Dessous, sie fallen auch.
Ihr Götter! Lasst mich nicht erblinden
und dieses Bild den Blicken schwinden.

Nein, es dauert keine Stunden
bis sich Herz zu Herz gefunden.
Ich habs mir nie so vorgestellt:
Alle Herrlichkeit der Welt
erlebten wir wohl in Sekunden.
Will wahrheitsmäßig noch bekunden,
dass mir einen Zauberstab
milde lächelnd übergab
meine Göttin Aphrodite.

Zu mir sprach sie dabei leise,
als ich in erwähnter Weise
Richtung Liebes-Locke-Nest
kletterte von dem Podest:
"Zauber ist mein Göttername!
Dein sei ganz die junge Dame,
dir gehört der Liebessieg,
- fatal, die Erinnrung an Troja und Krieg! -
wenn du lernst, mein lieber Heinz,
dieses Kypris-Einmaleins:


Das „Hexeneinmaleins“ löse ich lieber gleich auf: Das Ergebnis ist „Petra“. So hieß die dritte Zellengenossin Carolas und Waltrauts, die ich nach meiner Entlassung in Bayern besucht habe und feststellen konnte, dass aus Träumen sehr realitätsnahe Erlebnisse werden können.

Von Zwei eins weg, denn Eins sei Zwei,
zu weiterem Zweck streich ganz die Drei.
Zieh nun ab von Neun die Sieben,
hast du es so weit getrieben,
ist die Neun zur Zwei geworden.
Fünf, Sechs, Sieben sollst du morden!
Aus Acht mach Drei, die Vier bleibt hier!
Nicht aufzuhören rat ich dir.
Zur Fünf mach Eins
und Zehn ist keins.
So ists vollbracht!"
Noch einmal lacht
mir Mut ins Gemüte
der Liebe Göttin Aphrodite.

In deinen Augen lodern Feuer!
In deinen Adern glosen Gluten!
Und kämen garstge Ungeheuer,
stürmten hochgetürmte Fluten,
tät selbst die Erd sich auf inmitten,
ich würd sie leimen oder kitten,
stillte des Meeres Sturmgebraus,
verjagte die Monster aus dem Haus.
Zu dir! Zu dir strebt all mein Sinnen,
und könnte ich noch mal beginnen,
fast alles streichen würd ich, was ich schrieb,
dieses nur noch stehen blieb:

Saphirhimmel, hochgespannt,
weites Meer und Möwenschreie,
Purpurtrauben, Reih an Reihe,
roter Wein und goldner Sand -

ohne dich, mein liebster Schatz,
ist Griechenland ein öder Platz!
Bei allen Göttern und künftigen Kindern -
das gilts zu verhindern!

Wir fahren hin, das Traumland gemeinsam zu begrüßen,
werden liebend und glücklich selbst versüßen
die Nächte. Keines Baumes schattende Äste
verwehren störend aus weichem Liebesneste
den Blick hinan zu Sternen, zum Monde, zu Sonnen:
Wir genießen vereint der südlichen Liebe Wonnen.

Mit dem Wunsch niemanden gelangweilt zu haben - ciao und alles Liebe!
Heinz

Geändert von Heinz (01.12.2022 um 04:47 Uhr)
Heinz ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2022, 14:31   #2
männlich Georg C. Peter
 
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Beiträge: 833


Bedecke Deinen Himmel, Zeus!
So sprach in Bautzen Prometheus.

Heinz musste siechen (ohne Griechen)!

Sah aus dem Fenster und kniete
Vor Hera, Artemis und Aphrodite.

Streichelte in Bautzen
im Geiste deren Plauzen.

Erleichtert wurde so die Haft:
Durch Grazien in DreiWetterTaft.


Lieber Heinz,

so ernst das Thema ist:
Du bringst doch eine amouröse und mediterrane Leichtigkeit mit ins Spiel. Bravo!
Ich hoffe, die politische Haft hatte keine Spätfolgen und Du kannst Dich weiterhin Deines Lebens erfreuen.

Herzliche Grüße von
Georg
Georg C. Peter ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2022, 19:27   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City, auf der richtigen Seite des Mains
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Offen gesagt, habe ich nur Teile des Beitrags gelesen, lieber Heinz. Deinen Hintergrund kenne ich ja schon eine Weile. Und dass mir der erhabene Klang in der Lyrik nicht nahesteht, weiß du.

Aber die Zwischenberichte habe ich gelesen, die für sich allein höchst anschaulich sind. Dabei habe ich ein paar Typos beseitigt, die Bindestriche und die falsch gesetzten Zeilenumbrüche rausgenommen.

Für alle, die auch in diesem Faden lesen:

Wenn ihr Texte aus Word, die ihr formatiert habt, in Poetry einfügt, dann schaut, wie die Formatierungen rüberkommen. Poetry kann z.B. keine bedingten Worttrennungen erkennen. Ein Drucker druckt diese Zeichen richtig oder, wenn sie in den Fließtext verschoben werden, gar nicht aus; aber Poetry haut in das Wort einfach einen Bindestrich hinein.

Sorry, Heinz, dass ich vom Thema deines Fadens abgekommen bin, aber er bot mir die Gelegenheit, auf diese Besonderheit hinzuweisen. Und jetzt zurück zum Text.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2022, 21:16   #4
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Lieber Georg,
hab Dank für deine gereimten Verse! Haftschäden? Nee, glaub ich nicht und nehme an, dass die meisten Quälgeister schon das Zeitliche gesegnet haben. Ein Treppenwitz der Geschichte: In derselben Haftanstalt des MfS saß auch einer der Hauptverantwortlichen für das damalige Urteil des Obersten Militärgerichts der DDR, Erich Mielke, nach der Wende ein und wurde in ein anderes Gefängnis verlegt, weil er sich über die Haftbedingungen in Berlin Hohenschönhausen beschwert hatte.
Ilka-Marias Stellung zu dem "erhabenen Klang" meiner Lyrik erlaube ich mir entgegen zu setzen: Mit dem beinahe barocken Stil wollte ich, wissend, dass jede Zeile von Stasizensoren unter die Lupe genommen wird, eine opulente Epik vortäuschen, damit sie nicht merkten (und es auch nicht bemerkt haben), dass ich in ausschweifenden Worten genau davon schrieb, was ich am meisten vermisste, auch geheime Informationen einstreute, die - wie ich später erfuhr - richtig interpretiert wurden. Manche Strophen für sich betrachtet und aus dem Kontext gelöst, finde ich aber gar nicht zu überladen. Ein Klagelied über Bautzen II wäre nie durch die Zensur gegangen (wie hätte ich die Fehlbehandlung eines erlittenen Herzinfarktes durch die Briefkontrolle gebracht?). Höre ich mir hin und wieder Berichte ehemaliger politischer Häftlinge an, denke ich manchmal im falschen Film zu sitzen. Die Berichterstattung (und auch die Führungen durch die Gedenkstätten (Hohenschönhausen und Bautzen II) ist weit entfernt von objektiver Berichterstattung oder Aufklärung. Mit meinen kritischen Bemerkungen zu den offiziellen Verlautbarungen käme ich schnell in den Verdacht der Schönfärberei und ich überlege immer noch, ob und wie ich meine Darstellung der menschenverachtenden "Diktatur des Proletariats" an den Mann/die Frau bringe.
Liebe Ilka-Maria,
in meinen Zeilen an Georg versuche ich dir Antwort auf berechtigte Kritik zu geben. Für deine Berichtigungen, die mit der Formatierung zu tun haben, bin ich dir sehr dankbar. Du hast mich auf die verführerische Idee gebracht, aus dem einen Gedicht vielleicht zwanzig zu machen.

Liebe Grüße euch beiden,
Heinz
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