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Alt 24.11.2022, 21:37   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Demenz

Über Demenz wird viel berichtet und viel geredet. So viel, dass jeder Angst davor hat, von ihr einmal betroffen zu sein, sozusagen als Preis dafür, dass man heutzutage neunzig oder hundert Jahre oder sogar älter werden kann. Dabei trifft es nur einen geringen Prozentsatz, und darunter sind nicht immer die ganz Alten. Auch Jüngere kann es treffen. Außerdem: Demenz ist nicht gleich Demenz.

Es gibt Alzheimer, die meistdiskutierte Form der Demenz. Aber es gibt zum Beispiel auch die Levy-Körperchen-Krankheit oder schlicht und einfach die Altersverwirrtheit.

Meine Mutter ist Mitte neunzig, und es ist interessant, an ihr zu beobachten, wie sich das Denken im Alter verändert. Sie erinnert sich an alles, was in der fernsten Vergangenheit war, und vieles, was sie wiederholt, bleibt unverändert, so dass ich es als wahr annehmen kann. Aber immer mehr ihrer Erinnerungsbilder vermischen sich, überlagern sich, werden in eine andere Zeit versetzt oder tauschen die Personen aus. Sie hat eine Lebensgeschichte, erfindet sie aber ständig neu, indem sie Gehörtes und Gesehenes untermischt.

Meinen Vater, mit dem sie nach zwanzig guten Ehejahren über Kreuz stand und gegen den sie in den nachfolgenden Jahrzehnten einen erbitterten Krieg geführt hatte, stellt sie jetzt auf ein Podest als den besten und schönsten Mann, den sich eine Frau wünschen kann. Im Verfall ihrer rationalen Denkfähigkeit redet sie sich die Vergangenheit schön, erfindet sie quasi neu. Ich sitze dabei, lasse sie reden und denke: "Welch eine Gnade, den Rest dessen, was geblieben ist, so zu sehen."

Jeder meiner Besuche wird schwieriger. Denn es kostet Mühe, meine Mutter zu unterhalten. Und man muss aushalten können, die immer gleichen Geschichten von ihr erzählt zu bekommen, die auf ein Minimum geschrumpft sind.

Und es tut weh. Es tut sogar wahnsinnig weh.

Meine Mutter war eine Schönheit gewesen, eine energiegeladene Frau, die ihr Leben im Griff hatte. Sie gab mir Kultur, ermahnte mich, wenn ich Dialekt sprach, legte mir Märchenschallplatten auf und gab mir Bücher in die Hand. Ihr Haushalt war picobello. Sie gab mir Ordnung und Struktur. Wir liefen viel, denn in den Fünfzigern hatte der Durchschnittsmensch noch kein Auto. Die Straßen waren frei von Verkehr, deshalb war es ungefährlich, zu Fuß zu gehen.

Sie war schlank und agil. Im Schwimmbad war sie in ihrem hellblauen Badeanzug die Königin des Beckens. Mein Vater war stolz auf sie. Als er meine Mutter zum ersten Mal sah, wusste er: Sie ist es. Leider musste er zu früh sterben. Im Durchschnitt überlebt der hinterbliebene Ehepartner drei Jahre. Mein Mutter lebt nach achtzehn Jahren immer noch und steuert, wenn alles gut geht, auf ihre Hundert zu.

Was mich verblüfft, ist dieses Wechselspiel von Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis bei meiner Mutter. Danach kann es nicht stimmen, dass beide Gedächtnislandschaften getrennt voneinander existieren. Mein Mutter wirft vieles aus der Vergangenheit durcheinander. Aber sie erinnert sich noch haargenau daran, was sie mir vor zwei Wochen aufgetragen hat, ihr mitzubringen.

Demenz ist eben nicht gleich Demenz. Sie ist so individuell wie ein Fingerabdruck.

Aber egal, auf welcher Bühne und in welcher Rolle Demenz auftritt: Es tut weh, wenn ein Mensch, zu dem du gehörst, nicht mehr der Mensch bleibt, der zu dir gehört hat. Du stehst davor und kannst den Prozess nicht aufhalten. Du verlierst einen Menschen bei lebendigem Leib, und das ist viel schlmmer, als wenn er gestorben wäre.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
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Alt 25.11.2022, 19:27   #2
männlich andaristan
 
Dabei seit: 07/2015
Ort: Aschbach-Markt, wo alle Säufer der Welt einst geboren wurden und wohin sie auch wieder zurückkehren.
Alter: 28
Beiträge: 351


Einen Menschen bei lebendigem Leib zu verlieren ist mir bekannt. Mein Onkel war ein wichtiger Teil meiner Kindheit. Er war stark und tüchtig. Hab immer zu ihm aufgesehen, da mein Vater leider kein Vorbild war Jetzt ist mein Onkel 57 und seit seinem letzten Alkoholentzug eine lebende Leiche. Er kann kaum gehen, schläft quasi 20 Stunden am Tag, scheint oft verwirrt. Wenn man ihn besucht, schafft er es nicht, aufzustehen, nicht einmal die Augen zu öffnen, während man mit ihm spricht. Dabei ist er seit über einem Jahr trocken. Jetzt hat er Wasseransammlungen im Bauch und starke Blutarmut wegen der kaputten Leber. Fürchte er macht es nicht mehr lang. Als Kind habe ich immer daran geglaubt, dass meine Leute unzerstörbar sind. Doch bin ich aufgewachsen und habe den Verfall meiner Familie mitansehen können. Mein Vater, mein Großvater sind alle nicht viel besser dran. Eine Tante hat sich schon totgesoffen. Ich habe mir immer gesagt, wenn mein Onkel die Kurve kratzt, gibt es Hoffnung für meine Leute. Dass im Nahen des Todes endlich ihr Überlebenstrieb erwacht. Aber irgendwann erreicht das Leben einen Punkt, ab dem es zu spät ist um umzukehren. Das einzige was ich tun kann, ist einen besseren Weg zu gehen. Hab den Alkohol vor Jahren hinter mir gelassen. Mein Glück war, dass ich im Suff so viel Mist gebaut habe, dass mir nichts anderes übrigblieb, als aufzuhören. Heut leb ich ein anstrengendes, aber selbstbestimmtes Leben.
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