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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt.

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Alt 08.05.2022, 19:07   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Anti-Muttertag

Bevor du mit dem Mainstream schwimmst,
weil der Kommerz dich glauben macht,
dass du dich einzig gut benimmst
wenn du mit einer Blütenpracht
bei mir erscheinst, so lass dir sagen:
Das brächte mir nur Unbehagen.

Mein Haus wird nicht zur Ruhestatt
für Pflanzen, die ein Profiteur
zum Muttertag gemeuchelt hat,
dem schnöden Mammon zum Gehör.
Du brauchst mir keinen Strauß zu reichen:
Ich mag sie nicht, die Blumenleichen!

Lass Rosen und Pralinen sein,
bring lieber ein, zwei Flaschen Wein
wahlweise Brot in Flüssigform,
als Starkbier oder Doppelkorn.

08.05.2022
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Alt 08.05.2022, 19:40   #2
männlich Heinz
 
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Die Kommerzialisierung geht mir auch auf den Senkel. Ursprünglich haben die Kinder auf dem Nachhauseweg paar Blümchen am Wegesrand gepflückt und die Mama hat mit den Blütenköpfen der Gänseblümchen den Salat verziert.
H.
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Alt 08.05.2022, 21:51   #3
männlich MiauKuh
 
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Hi Ilka,

ich find dein Gedicht gleichzeitig lustig und anklagend und ich sehe es so, wie im Gedicht.

Gelungen finde ich auch den Schluss, den ich etwas abwandeln würde, weil das "oder" sonst anfangs falsch betont wäre :-)

Lass Rosen und Pralinen sein,
bring lieber ein, zwei Flaschen Wein
und etwas Brot in Flüssigform
von Starkbier oder Doppelkorn.

(so alá "in Form von")

Lg!
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Alt 09.05.2022, 06:36   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo Ilka und Kommentatoren,

ich weiß nicht, warum man sich über jedes und alles beschweren muss. Ich freue mich, wenn ich was geschenkt bekomme, und mir würde es nicht einfallen zu meckern, es sollten wegen der Kommerzialisierung bloß keine Blumen sein.

Davon abgesehen, gönne ich den Blumenhändlern auch den Umsatz. Die hatten in den letzten beiden Jahren wenig genug.
Überhaupt würde ich keinem, der mir Geschenke macht, um mir eine Freude zu machen, vorschreiben, was er mir schenken soll.

Schöne Grüße
DieSilbermmöwe
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Alt 09.05.2022, 06:45   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ich freue mich, wenn ich was geschenkt bekomme, und mir würde es nicht einfallen zu meckern, es sollten wegen der Kommerzialisierung bloß keine Blumen sein.
Ich nicht, wenn es aus Pflichterfüllung geschieht, weil "man das so macht" und man als Kind dazu abgerichtet wurde. Ich habe den Muttertag bei der Geburt meines Sohnes abgeschafft, trotz des langen Gesichts, das meine Mutter damals gemacht hatte. Ich schenke gerne und oft, aber aus persönlichen Gründen, und dafür ist mir jeder Tag im Jahr recht. Mir muss dafür niemand ein Stöckchen hinhalten. Und meinen Sohn will ich auch nicht wie ein dressiertes Tier ankommen sehen. Ich halte das für eine Entwürdigung.

Die Blumenhändler machen genug Umsatz. Geheiratet und gestorben wird immer, Geburtstag hat jeder einmal im Jahr, und außerdem haben findige Geschäftemacher noch den 14. Februar instumentalisiert. Und was soll an massakrierten, mausetoten Blumen sonderlich attraktiv sein? Mir ist der Klatschmohn auf den Wiesen und Feldern lieber.
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Alt 09.05.2022, 06:52   #6
weiblich DieSilbermöwe
 
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Vielleicht machen es andere nicht aus „Pflichterfüllung", sondern weil sie den Brauch selbst schön finden.

Zitat:
Und was soll an massakrierten, mausetoten Blumen sonderlich attraktiv sein? Mir ist der Klatschmohn auf den Wiesen und Feldern lieber.
Deshalb müssen andere Mütter das nicht genau so sehen.

Zitat:
Die Blumenhändler machen genug Umsatz.
Deswegen hat in der Stadt, in der ich arbeite, letztes Jahr auch ein Laden schließen müssen.

Ich finde das Gedicht inhaltlich sehr einseitig und das LI sehr egoistisch. Lettzeres nicht wegen den Blumenhändlern, sondern weil das LI den Kindern diktieren will, was sie zu schenken haben.
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Alt 09.05.2022, 08:14   #7
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Deswegen hat in der Stadt, in der ich arbeite, letztes Jahr auch ein Laden schließen müssen.
Kann man mir nicht erzählen, dass eine ganze Stadt einen einzigen Blumenladen "deswegen" den Bach runtergehen ließ. Da müsste man erst einmal die wahren Gründe für die Schließung kennen.

In meiner Umgebung existieren alle Blumenläden der letzten dreißig Jahre noch immer, und am Offenbacher Friedhof gibt es seit meiner Kindheit zwei konkurrierende Blumenhändler (Familienunternehmen) nebeneinander, quasi Grundstück an Grundstück, ausgestattet mit reichlich Personal. Der größere der beiden verfügt außerdem über Zweigstellen in der Innenstadt und in einem Nachbarort. Sogar in der Kleinstadt, in der ich lebe, gibt es reichlich Blumenläden und sogar ein riesiges Garten-Center.

Nee, Silbermöwe, ein Einzelfall überzeugt mich nicht. Und er ändert auch nichts an der Tatsache, dass dieser Kult um die Mutter eine reine Ideologie ist, die nicht über das Leid vieler Kinder hinwegtäuschen kann, das sie durch die eigenen Eltern erfahren in einem Land, in dem die Justiz gegen derartige Übergriffe so gut wie machtlos ist.
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Alt 09.05.2022, 12:39   #8
männlich Heinz
 
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Liebe Silbermöwe,
liebe Ilka-Maria,
hört Ihr meine baritonal gefärbte Stimme, spürt Ihr meine Besorgnis um das Seelenheil der jeweils anderen?
Ich denke, wir sind uns einig, dass wir unsere Dankesschuld an unsere Mütter niemals abtragen können. In ihrem Leib sind wir gezeugt, bis zur Geburtsreife heran gewachsen, von ihr sind wir - in der Regel - unter Schmerzen geboren (die sich ein Mann überhaupt nicht vorstellen kann und nur eine schwache Ahnung davon bekommt, wenn er bei der Geburt anwesend ist), mit Mühe - besonders, wenn wir noch in den Kriegsjahren oder kurz danach - aufgezogen - ich könnte endlos fortfahren, aber Euch nichts Neues erzählen.
Eigentlich müssten wir an jedem Tag des Jahres wenigstens ein kleines Dankeschön (und sei es nur ein Telefonanruf) sagen und ein Blümchen (nee, keine Blumenleiche, es gibt ja auch so kleine Töpfchen mit Veilchen, Anemonen, Hibiskus u.v.a., die dann fröhlich vor sich her blühen) schicken.
Der offizielle Muttertag (missbraucht von den Nazis als Jubeltag für Gebärmaschinen) erinnert mich an die Pflicht in einer katholischen Knabenschule, jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn wenigstens einen Viertelrosenkranz zu beten. Mit Glauben und Gebet hatte die oflichtgemäße Runterleierei von X Pater noster und Y Ave Maria nichts mehr zu tun.
Ergo: Lasst die Mütter ihren Muttertag analog den Vätern mit ihrem Vatertag feiern bis die Schwarte kracht. Ihr habt dann noch 364 Tage, um Eurer Mutter ein Küsschen zu geben.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 09.05.2022, 15:25   #9
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Ich denke, wir sind uns einig, dass wir unsere Dankesschuld an unsere Mütter niemals abtragen können.
NEIN!

Darin sind wir uns nicht einig. Ich schulde meiner Mutter keinen Dank für mein Dasein, vielmehr sollte sie sich bedanken, dass ich nach allem, was sie mir aufdiktiert und was sie mir in den Weg gelegt hat, für alle Demütigungen und für all die Schläge, die ich kassiert habe, trotz ihrer Aggressivität, trotz ihres Unverständnisses und ihrer Borniertheit, trotz ihrer Sklaventreiberei und allem, was sie aus mir machen wollte, um mich als gelungenes Püppi ihrer Welt auszustellen, ganz nach dem Motto, was die Nachbarn sonst denken könnten, heute noch für sie da bin und in der Lage bin, sie in den Arm zu nehmen und ihr die Liebe von Herzen zu geben, die sie mir nur in Form von Materialismus übergeschüttet hatte.

Wo ist denn der von Nazi-Ideologie freie "Töchter-Tag"? Der Tag der Töchter, die, wenn sie sich schminkten, von der eigenen Mutter als Nutten beschimpft wurden? Die in Kittelschürzen gesteckt und zum Mullabladen über den Hof gejagt wurden? Denen von den Eltern Supernoten in er Schule abverlangt wurden, die aber selber so ungebildet waren, dass sie ihren Kindern bei den einfachsten Schulaufgaben nicht helfen konnten? Die sagten, ihren Kindern - in diesem Falle mir - solle es einmal besser gehen als ihnen selbst, aber sich nur durch ihre Kinder für das profilieren wollten, was sie selber nicht zustande brachten? Wofür sie nicht einmal etwas konnten, denn sie waren die Jugend des Krieges mit gebrochenen Lebensläufen. Aber gerade deshalb hätten sie es anders wissen müssen.

Nee, so einfach ist das alles nicht. Ich war als Einzelkind ein verwöhntes Gör, solange ich klein war, aber ab einem gewissen Alter, als es schwierig wurde und ans Eingemachte ging, weniger wert als eine gesteuerte Blechkiste, die dorthin zu fahren hatte, wohin der Fahrer sie haben wollte. Da hatte ich nichts mitzureden, bis auf zwei Ausbruchsversuche, die kläglich am Diktat meiner Eltern scheiterten. Ich musste eine Lehre machen in einem Betrieb, die ein Gefängnis war. Meine wahren Neigungen und Vorstellungen, vielleicht sogar Begabungen, wurden als Spnnerei abgetan. Sie waren so weit jenseits der Arbeiterwelt, aus der ich stamme, angesiedelt, dass sie ins Reich des Phantastischen gehörten. Und mit fünfzehn Jahren hat man nicht den Wortschatz, sich dagegen zu verteidigen. Und ist auch noch sieben Jahre von der Volljährigkeit entfernt gewesen - damals.

Gewalt hat viele Gesichter.

Meine Mutter hat Glück, dass ich mir heute noch den Arsch für sie aufreiße. Denn was ich mir im Leben erworben habe, fand erst nach der Loslösung vom Elternhaus statt. Sie musste sich nie Gedanken um mich machen, wenn sie auf Arbeit war, denn ich hatte als Schlüsselkind gut funktioniert.

Wo ist der Tag der Schlüsselkinder? Davon gab es in den 50er Jahren mehr als genug.

Ich bin selber Mutter, aber dieser Mutterkult, der ziemlich offensichtlich an den Marienkult anschließt, kotzt mich an!

Und überhaupt wird ja heutzutage jeder Tag zu einem Hoheitstag gekürt:

Der Tag der Weiber,
Tag der Würmer
Tag der Kröten (wie immer man das auslegen möchte),
Tag der Pubertierenden,
Tag der Diversen,
Tag der Perversen,
Tag der Aktionäre,
Tag der Schafzüchter,,
Tag der Glatzköpfe,
Tag der Töpfer ...

... nach oben offen. 365 Tage bieten Raum für Absurdes, dem man einen Heiligenschein aufsetzt. Willkommen im Reich der Luxusprobleme!
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Alt 10.05.2022, 13:03   #10
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
ich bin ja nicht mit Blindheit geschlagen. Dass es Mütter gibt, die es besser nicht geworden wären, weiß ich aus eigenem Erleben nur allzu gut. Nicht ich habe darunter gelitten, im Gegenteil: Ich hatte eine glücklich Kindheit, die ich nicht nur meiner Mutter, sondern fast nur Frauen mit einer Ausnahme - meinem Urgroßvater - zu verdanken habe: Meiner Urgroßmutter, die sich nach der Flucht meiner Eltern in den Westen um uns Kinder kümmerte, meiner Lieblingstante Berta, in meiner zweiten Heimat, der Einhügelquelle bei Jena,
und einem halben Dutzend Cousinen und Tanten, zu denen ich heute noch, so weit sie nicht, bedenke mein Alter, schon gestorben sind, sehr enge Bindungen habe. Mit anderen Worten: Frauen haben mich seit frühester Kindheit begleitet und wohl auch geformt. Kein Wunder, denn viele Männer hat der Krieg gemordet. Ich war ein Muttersöhnchen und von daher kommt meine hohe Meinung von Müttern. Nur eine, ausgerechnet die Mutter meiner beiden jüngsten Söhne, könnte die von Dir beschriebene "Qualität" Deiner Mutter in den Schatten stellen.
Ich glaube aber, dass diese lebenden Beispiele eine Minderheit von Müttern darstellt. Für solche ist aber der "Muttertag" nicht erfunden worden.
Vielleicht ist der Internationale Frauentag (Weltfrauentag), der untrennbar mit dem Namen Clara Zetkin verbunden ist, eher ein Grund, nicht nur die Mütter, sondern alle Frauen zu ehren?
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 10.05.2022, 14:34   #11
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Vielleicht ist der Internationale Frauentag (Weltfrauentag), der untrennbar mit dem Namen Clara Zetkin verbunden ist, eher ein Grund, nicht nur die Mütter, sondern alle Frauen zu ehren?
Nicht für mich, Heinz. Ich glaube zwar zu verstehen, was du sagen willst, aber ich sehe es dennoch anders. Für mich gibt es keinen Grund, eine Frau besonders zu ehren oder selber geehrt werden zu wollen wegen des Zufalls, als Mädchen geboren worden zu sein. Wenn ich Personenkult betreiben will, suche ich mir das Objekt meiner Verehrung selber aus, und hoffentlich mit Gründen, die diesen Irrsinn einigermaßen rechtfertigen; aber ich lasse ihn mir nicht von sozialen oder staatlichen Systemen aufdrücken oder von der Tatsache, ins Leben gesetzt worden zu sein, ohne dass mein Wille dabei eine Rolle gespielt hätte. Kinder werden vorwiegend von Frauen erzogen und genährt und lernen eher von ihr als von den Vätern die Grundlagen der Sprache, das ist wohl richtig. Aber sind das Gründe, dankbar sein zu müssen? Solche Mechanismen sind naturgegeben und funktionieren auch bei solchen Müttern, die für Kinder untauglich sind (wobei ich hier Verhaltensweisen außen vor lasse, die justitiabel sind, denn das ist ein gesondertes Problem).

Ich war jahrelang mit einer Sozialarbeiterin befreundet, die mir von einem Fall erzählte, in dem sie auf richterliche Anweisung ein vernachlässigtes und misshandeltes Kind von der Mutter wegholen lassen musste. Dabei muss es eine unbeschreibliche Szene gegeben haben, denn das Kind heulte und schrie nach seiner Mutter zum Steinerweichen.

Ich hatte eine Freundin, die versicherte, ihren Sohn vom Tag seiner Geburt an geliebt zu haben. Sie war ihm aber keine Mutter, sondern eine Herrscherin. Von morgens bis abends erteilte sie ihm Befehle, was er zu tun und zu lassen habe, und wenn ihm beim Essen eine Kartoffel von der Gabel fiel, durfte er nicht weiteressen, sondern musste zur Strafe sofort ins Bett. Sie bestimmte, wann er für seine Spielsachen zu alt geworden war und sie an andere Kinder zu verschenken hatte, obwohl er unter Tränen bettelte, sie noch behalten zu dürfen. Als er sich den Fuß gebrochen hatte und in Gips humpeln musste, wurde er permanent angebrüllt, weil das Material bröselte und in der Wohnung Spuren hinterließ.

Ich hatte als Kind einen Spielgefährten, der von seiner Mutter dermaßen vertrimmt wurde, dass er zu stottern begann. Eine Schulkameradin von mir durfte nachmittags nicht spielen gehen, sondern hatte Geschirr abzuwaschen und sich mit ihrem kleinen Bruder zu befassen, obwohl die Mutter den ganzen Tag zu Hause war. Eine Verwandte von mir setzte ihre erst neun Jahre alte Tochter dazu ein, die beiden jüngeren Geschwister stundenlang im Kinderwagen durch die Gegend zu bugsieren, damit sie zu Hause in Ruhe ihre Lover empfangen konnte. In den 80er Jahren, der Zeit der "Selbstverwirklichung", war es nicht besser: Da sah ich Frauen ihre Männer mitsamt den Kindern verlassen, und es war ihnen scheißegal, wie sie damit zurechtkamen. In der S-Bahn-Station Frankfurt-Hauptwache beobachtete ich einmal eine Frau, wie sie ihr weinendes Kleinkind aus dem Buggy hob und den Jungen von oben herab in den Sitz donnerte, und weil er umso mehr brüllte, gleich mehrmals hintereinander mit noch größerer Wucht. Offensichtlich war ihr nicht klar, was sie einem Gehirn, dessen Schale noch nicht zugewachsen war, damit antun konnte.

Sorry, wenn das wie eine Litanei klingt, aber ich habe leider zu viele Mütter erlebt, die alles andere als mütterlich waren. Oft waren die Väter die besseren Mütter, nämlich geduldiger, verständnisvoller und weit weniger aggressiv.

Nein, Heinz, wir Frauen sind nicht nur fürsorgliche Mütter, sondern genauso egoistische und herrschsüchtige Monster wie alle anderen Menschen. Sogar die Verehrung der Gottesmutter ginge mir zu weit.

Meine Mutter sagt mir heute noch manchmal, sie habe, als ich Kind war, immer ein schlechtes Gewissen gehabt, arbeiten zu gehen, statt sich um mich zu kümmern. Ich kann sie jedesmal beruhigen: Gottseidank warst du nicht da, denn das war meine schönste Zeit, nämlich frei von mütterlichem Terror. Mein Sohn hört sich mittlerweile genauso an: Zum Glück, sagt er, warst du tagsüber fort, denn wenn du gesehen hättest, was ich und meine Freunde alles angestellt haben ...
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Alt 10.05.2022, 16:22   #12
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
mit Deinem Erfahrenshorizont käme ich auch zu dem Schluss: Scheiß was auf den Muttertag!
Der 8. März ist in meinen Augen kein "Ehrentag", sondern Anlass, über die Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft nachzudenken und es nicht beim Nachdenken zu belassen.
Die Tatsache, dass Kinder zuerst bei ihren Müttern - was auch immer - lernen,
sollte meiner Meinung nach auch die Tatsache beinhalten, dass es in den Kindertagesstätten, Horten und der Grundschule auch hauptsächlich Frauen sind, von denen sie Erziehungsarbeit ausgeübt wird. Ich beginne in Abgründe zu schauen.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 11.05.2022, 15:46   #13
weiblich gazelle
 
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[QUOTE=Ilka-Maria;576664]Ich nicht, wenn es aus Pflichterfüllung geschieht, weil "man das so macht" und man als Kind dazu abgerichtet wurde. Ich habe den Muttertag bei der Geburt meines Sohnes abgeschafft, trotz des langen Gesichts, das meine Mutter damals gemacht hatte. Ich schenke gerne und oft, aber aus persönlichen Gründen, und dafür ist mir jeder Tag im Jahr recht. Mir muss dafür niemand ein Stöckchen hinhalten. Und meinen Sohn will ich auch nicht wie ein dressiertes Tier ankommen sehen. Ich halte das für eine Entwürdigung.

Meine Mutter sah das genauso und vielleicht war es mir deshalb ein besonderes Bedürfnis, für sie (und für meinen Vater) da zu sein. Am Ende ihres Lebens war sie durch einen Hirntumor halbseitig gelähmt und deshalb pflegebedürftig. Da ich selbst berufstätig war und mein Bruder 100 Kilometer entfernt, war ich wöchentlich mindestens zweimal bei ihr. Dann empfing sie mich mit den Worten "Hallo mein Schatz, schön, dass du da bist" und dazu immer der Satz "danke, dass du das alles für mich tust".
Als ich einmal erwiderte "Du hast viel mehr für mich getan als ich für dich" wurde sie streng, erhob Zeigefinger und Stimme mit den Worten "Das ist was anderes! Ich habe dich gewollt! Du musstest nehmen, was du kriegst!"

Für mich und meinen Sohn ist dieser unsägliche Kommerz mit Muttertag (Halloween/Valentinstag...) zum Glück unsichtbar.
gazelle ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.05.2022, 16:39   #14
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von gazelle Beitrag anzeigen
Meine Mutter sah das genauso und vielleicht war es mir deshalb ein besonderes Bedürfnis, für sie (und für meinen Vater) da zu sein.
Lass deine Mutter streng sein, gazelle, sie hat ein Recht auf ihre Sichtweise. Und du auf deine, und was du für sie tust, geschieht aus freien Stücken, also kann es nicht falsch sein. Bei mir ist es ähnlich: Meine Mutter ist im Heim, wo ich sie nie haben wollte, aber wegen ihrer Aufmüpfigkeit und Besserwisserei auf richterliche Anordnung gelandet ist. Ich konnte es nicht verhindern, denn sie ist psychisch krank, und zwar ziemlich heftig, das übersteigt die Kompetenz eines Laien. Auf mich hörte sie nicht, nahm ihre Medizin nicht und terrorisierte die Nachbarschaft, vor allem in der Nacht. Im Heim jedoch ist sie lieb und brav, das reinste Blumenkörbchen. Jetzt besuche ich sie regelmäßig, und dafür muss ich hin und zurück fast 100 km fahren. Sie freut sich immer, wenn sie mich sieht, denn viel ist von ihrer Familie nicht übrig geblieben. Bis auf ihre jüngste Schwester sind alle anderen Geschwister längst verstorben. Diesen Sonntag wird sie 93 Jahre alt.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.05.2022, 18:45   #15
weiblich gazelle
 
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Liebe Ilka-Maria, gerne würde ich sie streng sein lassen. Sie ist leider genau an meinem Geburtstag gestorben, am 14. Mai 2006.
Ironischerweise war das in jenem Jahr der Muttertag. Ich glaube, das hat mir den Muttertag endgültig verbrannt, falls das überhaupt noch möglich war.
gazelle ist offline   Mit Zitat antworten
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