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30.01.2019, 12:33 | #1 |
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Conciergerie
Île de la Cité. Ich stehe auf der Pont au Change und erkenne das Gebäude nicht wieder: Das Gebäude, das die düsterste Geschichte der Stadt Paris schrieb und dessen Fassade, so oft ich ihr gegenüberstand, mit einer rußfarbenen Patina überzogen gewesen war, erstahlte in der hellen Farbe frisch verbauten Gesteins.
Unfassbar! Wer kam bloß auf die unsägliche Idee, der Fassade dieses Gefängnisses, das jedem Betrachter seit der Französischen Revolution von 1789 die Nackenhaare sträuben ließ, ein derart unschuldiges Gewand zu geben? Wusste niemand mehr, dass damals, als die Guillotine auf der Place de la Concorde unermüdlich arbeitete, keine Seele aus der Concergerie herauskam, die nicht zum Tode durch Enthaupten verurteilt worden war und der ihr letzter Gang verwehrt wurde, indem man sie auf einem rumpelnden Schinderkarren zur Hinrichtung zog? Wenn die Dunkelheit hereinbrach, wussten die verbliebenen Insassen, dass sie einen Aufschub hatten. Vielleicht bis zum nächsten Tag. Vielleicht länger. Die Glücklichsten unter ihnen lange genug, um den Terror zu überleben. Vor der Conciergerie steht ein modernes Fahrzeug in der Größe eines Lieferwagens. Die Fenster sind aus Milchglas. An der Seite lese ich die Aufschrift: Administration pénitentiaire. Natürlich. Der Concergerie ist Saint Chapelle mit dem Justizpalast angeschlossen. Deren Fassaden sind ungereinigt, rußig-schwarz vom jahrzehntealten Dreck der Straße. Hier herrscht noch Traditionsbewusstsein. Oder der Stadt war wieder einmal das Geld ausgegangen. Wen hatte bloß der Teufel geritten, die Fassade der Conciergerie reinigen zu lassen und ihr den Zauber – jawohl: den Zauber – zu nehmen, der mehr als zweihundert Jahre lang den Touristen einen wohligen Schauer über den Rücken jagte? Danton, Desmoulins, Robbespierre, St.-Juste … Hinter diesen hellen Mauern kann ich sie mir nicht mehr vorstellen. Es ist beinah, als habe man sie ihrer Geschichte beraubt … |