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Alt 02.01.2007, 22:59   #1
Belgarath
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Standard Dunkle Tage der Kindheit

z.Zt. arbeite ich an einer teilweise autobiografischen Erzählung / Erinnerung, die ich in gänzlich anderer Form und Aufbau schon einmal vor mehr als 35 Jahren im „Verlag Neues Deutschland/DDR“ unter dem Titel „Das habt ihr uns angetan“ veröffentlicht habe, quasi mein Erstlingswerk, ohne erwähnenswerten Erfolg. Im Laufe meines Lebens und meiner literarischen Arbeit habe ich allerdings Schreibtechniken und Textaufbau gelernt, die mir damals nicht zur Verfügung standen. Daher habe ich mich zu einem neuen Versuch entschlossen, habe auch bereits einen interessierten Verlag gefunden und das Cover fertig gestellt. In dieses Werk fließen allerdings in der neuen Fassung nicht nur meine Erinnerungen, sondern auch die anderer Waisen- und Heimkinder ein, mir teilweise persönlich bekannt und vertraut, die unter sehr schwierigen Umständen ihre Kindheit erlebten. Die Grundstruktur des von mir beschriebenen Waisenhauses allerdings ist absolut authentisch geblieben, die handelnden Personen absolut real erinnert, mit leichten Veränderungen zum Persönlichkeitsschutz.



Dunkle Tage der Kindheit – Auszug 1.Kapitel



Ich will nicht, ich mag nicht und bin dennoch gezogen in jene Tage, die mir aus einem anderen Leben scheinen, das nicht das meine ist, vertraut und voller Dunkelängste.
Kalt ist es dort, wohin es mich treibt, nur nicht los lassen, die Nabelschnur fest verankert in der Gegenwart, - nur nicht los lassen.
Meine früheste Erinnerung, nebelhaft und metamorph, laut, immer laut und kalt, metallischer Lärm und rhythmisches Schlagen von Eisen auf Eisen, unendlich lange, monoton.
Nebel, Nebel umgibt mein Denken, meine Erinnerung, die Nebel vom Eschbachtal, das Bergische Land, Regenloch und pfeifende Winde und dunkle Waldtäler, murmelnde Bäche, verwunschene Wege, Fachwerkhäuser und Schieferwände, gekauert an die schroffen Hügel, Nebel, der den Blick der Augen begrenzt.
Tiefer will ich – muss ich tauchen, hindurch unter dem Nebel und dem fernen Rauschen der Wasser, in jenen lauten Lärm, der mich begleitete in jenes Leben, das weit hinter mir liegt und doch so greifbar nah ist. Ich muss nur meine Hand ausstrecken und kann es berühren und fühle den Schmerz, der mich zerreißt, der kalt über mein Gesicht fegt. Da ist Schmerz, unsagbar viel Schmerz, der die Haut aufreißt und peitscht, und fetzt und stinkt, - direkt hinter dem Nebel, und doch auch helles Sonnenlicht nach bitterer Kälte.
Und wieder ist es laut, laute Stimmen, gesichtslose Gesichter und graue Hände, die mich hoch heben, laute Stimmen, die etwas sagen, ohne jede Bedeutung. Menschen, immer mehr Menschen, lachen und reden immer lauter und zeigen mit dem Finger auf mich. Menschen in grüner Kleidung, schmutzig schwarze Menschen, kleine Menschen, große Menschen, mit kalten Händen, Menschen ohne Haare und solche mit vielen Haaren mitten im Gesicht. Sie sind laut und leise, andere noch lauter, schreien und rennen, stehen still und halten eine Hand an den Kopf, ohne jede Bedeutung.
Stille ist ein wunderbares Gefühl, auch Wärme, ringsum Wärme, dann wieder Hände, die an mir zerren, mir vom Leib reißen, was mich wenigstens ein wenig warm hält.
Ich brülle aus Leibeskräften, - doch jetzt ist es nicht kalt.
Menschen lachen, seltsame Menschen, schmutzig dunkel, aber mit warmen Händen, die mich wieder hochheben, die an mir herumfingern, mir ein kaltes, großes Etwas auf den Bauch legen, auf meine Brust, auf meinen Rücken, mich dann endlos lange einwickeln in Tuch um Tuch, ein kuscheliges Fell, eine warme Decke, und geben mir Nahrung, Milch aus einer Brust, die keine ist, aber sich genauso warm anfühlt und Sicherheit gibt.
Schlafen, schlafen, Nebel umwabern mich, wie die Nebel des Eschbachtals, totale Erschöpfung, kraftlose Müdigkeit, schweben in Erinnerung, die ich nicht will.
Dann wieder Lärm, Schmerz in meinem Arm, eine gigantisch große Nadel durchsticht meine Haut. Und wieder Menschen um mich her. Einer, schmutziger noch als andere vorher, redet auf mich ein, ohne dass ich irgend etwas verstehe.
Aber es klingt beruhigend, es fühlt sich gut an, wie er mit riesigem schwarzen Finger meine Wange streichelt, und dann Platz macht für einen anderen Menschen, sauber und hell, der mich befreit vom Schmerz und Gestank, mich wäscht und pudert, während ich kraftvoll brüllend auf irgend etwas liege, was sehr hart und kalt ist. Wieder werde ich eingehüllt von weißem Nebel aus Tüchern und noch mehr Tüchern, bis mir wieder ganz warm wird.
Menschen stehen um mich herum, Menschen in grüner Kleidung, reden und lachen und machen Platz für noch einen, auch in grüner Kleidung. Der spricht sehr laut, mit dröhnender Stimme, während alle anderen plötzlich schweigend zur Seite treten. Ein seltsames schwarzes Etwas wackelt im Mundwinkel dieses neuen Menschen, das qualmt und stinkt, wenn er bellend spricht, und die anderen Menschen lachen, sind sauber und schmutzig und etwas schmutzig und ganz hell sauber und beugen sich zu mir, betrachten mich mit diesen riesig großen Augen.
Wieder sagt der Stinkende etwas mit sonorer Stimme und beugt sich zu mir runter, bläst mir grauen Rauch ins Gesicht, und bellt laute Worte zu den Umstehenden, die alle gleichzeitig irgend etwas sagen, die Hand an den Kopf legen. Dröhnendes Stampfgeräusch von allen Seiten, Menschen hoch aufgerichtet folgen mit den Augen dem Stinker zur Tür. Ganz saubere, helle Menschen sprechen nun, mit hellen Stimmen, so wohlklingend wie Musik, und alle gehen, die Schmutzigen, die ganz Schmutzigen, die ganz wenig Schmutzigen und auch die hellen Sauberen, die Lachenden, und alle in grüner Kleidung. Nur ein paar bleiben, geben mir wieder diese Nahrung aus der falschen, warmen Brust, die wunderbar meinen nagenden Hunger stillt.
Schlafen, schlafen, wieder schlafen, ruhige Zeiten folgen nun.
Nebel wallt um mich, Nebel, aber anders als im Eschbachtal, vermischt mit sanften Farben, Nebel der Erinnerung aus Schlafen und Nahrung, aus Wärme und vielen Gesichtern, die dicht vor mir sich zu mir beugen, mich ansehen, schmutzige Gesichter, saubere Gesichter, warme Hände, schmutzige Hände, große Finger, helle Finger und schwarze Finger. Und immer wieder neue Menschen und erste nebelhafte Brocken von Worten.
„... get out ... dont touch ... no … utschigutschigutschi … stop it ... silence please … yes Sir ... aye Sir … yes Sir … ready Sir … yes Sir …”
So lernte ich sprechen, die Sprache der Menschen um mich herum, immer wiederkehrende Worte, die sich tief eingruben in mein Gedächtnis: „Yes Sir ...“
Die Bedeutung verstand ich nicht wirklich, aber auch nicht von „utschigutschigutschi“, liebte aber den Geschmack von etwas Dunklem, das mir immer wieder schmutzige und saubere Menschen und ganz schmutzige Menschen mit schwarzen Fingern sanft in den Mund schoben, mich daran nuckeln ließen, bis sich die Süße wohlschmeckend in meinem Mund löste. Ich brüllte wie am Spieß, wenn ich nicht genug davon bekam, und wollte immer mehr, und verlor die Angst vor schmutzigen Menschen mit schwarzen Gesichtern und schwarzen Händen, schlief auf ihrem Arm, auch bei den ganz schmutzigen Menschen, so tiefschwarz wie die Nacht. Und gewöhnte mich an den Geruch, den sie verbreitetem, stechend scharf, bitter ölig und tranig, rauchig und warm und seltsam frisch, wie kühler Wind an heißen Sonnentagen.
Das war ohnehin wunderbar, liegen in einem Korb, voller weißer Tücher, die Sonne schien, konnte aber nicht blenden, da ihr ein buntes Tuch die direkte Sicht auf mich verwehrte, während ganz in der Nähe, laut und metallisch rasselnd und dröhnend, ein riesiger, stinkender Drache vorbei zog. Menschen rannten in großen Gruppen über den Platz, einer von ihnen brüllte etwas laut und alle standen still. Oft kamen auch kleine Drachen, nicht minder stinkend, aber viel leiser, fast schleichend, an meinem Sonnenplatz vorüber.
Pünktlich, noch ehe sich mein Hunger zu melden schaffte, war dann wieder diese falsche Nahrungsbrust zur Stelle, wurde ich dem inzwischen vertrauten Ritual der Befreiung von Gestank und Schmerz zugeführt, wechselten diese wunderbar weichen Tücher, bis mir wieder ganz wohlig war. Da waren diese hellen Menschen, ganz hell, aber auch einige mit schmutzigen Gesichtern und großen Augen und schwarzen Händen, mit hellen Stimmen, und solchen wie rollender Donner in schlafarmen Nächten.
Gellend schreiende Silbervögel zogen manchmal an diesem blauweißen Himmel über meinem Sonnenplatz, und sogar ein fliegender Drache dröhnte unglaublich laut ganz in der Nähe vorbei und verschwand hinter einem großen Backsteinbau. Doch wenn mich das ängstigte, und ich laut zu brüllen begann vor Schreck, kam sofort diese Frau in Weiß mit den großen Augengläsern und der sanften Stimme, mit dem ganz sauberen Gesicht und den hellen Händen, und brachte mich an einen ruhigen Platz.
„Yes Sir ...“, lernte ich schneller als alles andere, nur dieses seltsame Legen der Hand an den Kopf mochte mir nicht gelingen. Es war schwer das nachzumachen.
Nebel wallt in mir, bunter Nebel, nicht aus dem Bergischen Land, aber laut und kreischend, schrill und bunt, Nebel der undeutbaren Erinnerung.
Beständigkeit stellte sich ein, ein riesengroßer, sehr schmutziger Mensch, ein Mann in grüner Kleidung, mit schwarzem Gesicht und Händen, aber mit einer warmen, tiefen Stimme und unerschöpflich viel von dieser Süße, die ich zu lieben gelernt hatte. Er gewann mein Vertrauen, war immer wieder da, wenn ich erwachte, wenn ich schlecht schlief, oder wenn die Sonne schien, draußen auf meinem Sonnenplatz, - und auch bei den ersten Versuchen irgend etwas sinnvolles mit meinen Beinen anzufangen. Krabbeln konnte ich schon gut und schnell. Auch mehr an Worten brachte er mir bei.
„Gut Morning, Sir … heff a neis Dee … ollreit, Mam … Yes, Sir … senk ju … plies … Schokol..t … hanga … i mast piss … Shit … schat ap … get out … Bullshit …”
Noch immer fiel es schwer, die Worte den Dingen zuzuordnen, aber “Yes, Sir” war ein Wort, dass immer gut und angebracht schien. Ich hatte sogar ein wenig gelernt die Hand an den Kopf zu legen, und der schmutzige, dicke Mann in grüner Kleidung versuchte lachend mein Können darin zu verbessern.
Viel Zeit verbrachte ich mit anderen, mit ganz anderen Menschen, bunt waren sie, sehr bunt und kreischend laut und sprachen seltsam – und waren plötzlich einfach weg. Dafür rasselte etwas hinter mir im Lichtstrahl, statt leise zu summen, und ein monoton schabendes Geräusch wiederholte sich minutenlang. Aber sobald ich laut brüllte, kam irgendwer, machte irgend etwas, und die bunten Wesen oder Menschen waren wieder da, kreischten und lachten, und brabbelten Unverständliches wie zuvor. Greifen konnte ich sie nicht, sie streichelten auch nicht mit einem Finger mein Gesicht, beugten sich nicht zu mir in meinen großen, warmen Korb, aber ich hatte keine Angst vor ihnen.
Auch der Stinker kam noch ein- zweimal, immer mit diesem rauchenden, schwarzen Etwas im Mund, redete nicht mit mir, sondern mit anderen Männern in dunklen Anzügen, mit und ohne Brille auf der Nase, und schien sehr unzufrieden, - im Gegensatz zu mir, einem wohlgenährten Baby, das mit allem versorgt wurde, was es brauchte.
Aber er ging nie, ohne einen letzten Blick in meinen Korb zu werfen, grinste breitmundig und zwinkerte mir zu. Doch noch während er die Hand nach mir ausstreckte, um mein Gesicht zu berühren, kam bereits diese hell klingende Stimme aus dem Hintergrund: „Please, dont touch, Sir ...“, die keine Diskussion und Widerspruch duldete.
Dann zog er die Hand sofort zurück, grinste und zwinkerte noch einmal, und tauchte lange nicht mehr in meiner Nähe auf.



Wer mehr lesen will, kann das komplette 1.Kapitel zur Probe auf meinem Kreativ-Blog
http://www.free-blog.in/Belgarath herunterladen und nachlesen. Dort sind auch weitere literarische Werke von mir zu finden.



(c) Hans B.
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