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12.05.2011, 19:29 | #1 |
Überwunden
Als meine Schwester vor den Augen unserer Mutter all ihre Tagebücher und Abschiedsbriefe verbrannte, wusste ich, dass ich etwas falsch machte. Ich hielt die erste Träne auf Papier, die ersten zwei Schritte in die Klinik, den letzten Faustschlag gegen die Wand. Ein Foto der blutverschmierten Klinge, gespült, sauber, jetzt wieder in der Küchenschublade. Das bleiche Gesicht meiner Schwester daneben. Ich halte das letzte Familienfoto vor der Scheidung meiner Eltern und das Todesdatum meiner beiden Hamster.
Als meine Schwester all das verbrannte, was sie im letzten Jahr aus sich herausschrieb und fotografierte und datierte, rannte ich in mein Zimmer und riss die Zettel und Bücher aus dem Regal. Heute, wieder ein Jahr später, liegen die Blätter wieder geordnet im Regal. Ganz hinten, verdeckt von anderen Büchern. Ich kenne den Platz, an dem meine Schwester stand und zum Fluss hinunterblickte. Ich kenne ihn, da ich ihn unter meinen Füßen spüre. Wie gerne würde ich die Zettel an ihrer Stelle hinunterwerfen, an den Steinen zerspringen sehen, im Wasser untergehen sehen. Verschwinden sehen. Doch ich kann es nicht. Ich schreibe immer noch. Auf dasselbe Papier. Doch ich frage mich, warum die anderen wieder lachen. Wie sogar meine Schwester wieder lachen kann. Ich kann es nicht. |
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12.05.2011, 20:58 | #2 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Trotzdem: Die ersten Zeilen mußte ich mehrmals lesen, um die Zuordnung zu den Personen zu finden, und da fragte ich mich jedesmal: Konnte sie das nicht klarer und eindeutiger schreiben? Aber nein! Dann wäre es ja durchsichtig und langweilig gewesen, und ich hätte es nicht mehrmals gelesen, um selbst die Ordnung zu finden. Am Anfang wurde mir nämlich nicht sofort klar, wessen Erinnerungen verbrannt wuden, die der Mutter oder die der Schwester. Danach, nach wiederholtem Lesen, war mir klar, die "kleine" Schwester hatte gelernt, aussortiert, aber nicht gleich verbrannt. Das alles ist schnörkellos erzählt, die Dramatik ergibt sich aus der Szene. Die Erkenntnis ist bitter, aber versöhnlich: Man kann seine Lebensgeschichte nicht einfach verbrennen, man muß sie annehmen, mit ihr leben und mitnehmen ins Grab. Sehr, sehr gerne gelesen. LG Ilka-M. |
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