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01.03.2012, 11:43 | #1 |
Forumsleitung
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Memory Notes No. 3: Erziehungssache
„Ehrlich währt am längsten.“
Das war nur eines dieser Mahnworte, die meine Kindheit in den fünfziger Jahren begleiteten. Sprüche derart erzieherischen Anspruchs gab es zahlreich: „Lügen haben kurze Beine.“ „Plaudere nicht aus dem Nähkästchen.“ „Daß mir keine Klagen kommen!“ Undsoweiter, undsofort. Klagen kamen zuweilen, aber von geringem Belang, denn ich war ein gehorsames Kind - ein Schlüsselkind, das alle Mahnungen derart verinnerlicht hatte, daß meine Eltern ohne innere Unruhe ihrer Arbeit nachgehen konnten. Nach der Schule hatte ich schnurstracks nach Hause zu gehen und meine Aufgaben zu erledigen. Wir wohnten in einem alten Hinterhaus, vor dem zur Straße hin ein Trummergrundstück lag. Eines Tages - ich wollte mich gerade von einer Schulkameradin verabschieden, die ein paar Häuser weiter wohnte - sah ich auf dem Gehweg vor diesem Trümmergrundstück ein Stückchen braunes Papier liegen, auf dem ein Teil eines Bildes zu sehen war. Das machte mich neugierig, also hob ich es auf. Es fühlte sich dick und fest an, und im nächsten Moment stellte ich fest, daß es ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt war. Stück für Stück klappte ich es auf und staunte nicht schlecht, als ich zwei Fünfzig-Mark-Scheine in der Hand hielt. Gut erzogen, wie ich war, wußte ich sofort, was ich zu tun hatte. Einen Block von unserer Wohnung entfernt befand sich im Eckhaus auf der linken Seite ein Polizeirevier. Dort lieferte ich meinen Fund ab und gab zu Protokoll, wo das Geld verloren gegangen war. Mit breiter Brust erzählte ich am Abend meiner Mutter von meiner guten Tat. Die Reaktion kam über mich wie eine kalte Dusche. „Weißt du, wie lange dein Vater für soviel Geld arbeiten muß? Ist dir eigentlich klar, was wir damit alles hätten kaufen können? Das sind mehr als drei Monatsmieten! Wie kommst du überhaupt dazu, so eigenmächtig zu handeln?“ Ich hatte einen süßen Pudding für mein Wohlverhalten erwartet und bekam nicht einmal Wasser und Brot. Und doch wußte ich trotz meines kindlichen Alters, daß ich recht gehandelt hatte. Alle paar Wochen ging meine Mutter zum Fundbüro, um zu fragen, ob sich der Besitzer der Geldscheine gemeldet habe. Aber offensichtlich hatte dieser nicht mit einem ehrlichen Finder gerechnet, jedenfalls ließ sich niemand blicken, um Anspruch zu erheben. Ein Jahr blieb das Geld in Verwahrung, dann wurde es meiner Mutter ausgezahlt. Ich hatte ein gutes Gefühl. 1. März 2012 by Ilka-Maria |
01.03.2012, 14:02 | #2 |
R.I.P.
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Im Moment sind mir die passenden Worte nicht "parat".
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01.03.2012, 15:21 | #3 |
Forumsleitung
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Sagen wir's mal so: Zwischen Theorie und Praxis liegen oft Welten.
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07.05.2012, 17:47 | #4 |
Dabei seit: 05/2012
Alter: 40
Beiträge: 8
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Hallo Ilka-Maria,
da ich hier ganz frisch angekommen bin, sei es hoffentlich verziehen, dass ich "ältere" Beiträge wieder nach oben hole, aber ich finde deine drei Geschichten einfach zu schön, als dass ich sie unkommentiert zurücklassen möchte. Stellvertretend für alle drei Geschichten hier an dieser Stelle ein dickes Lob. Ich habe sie gern gelesen, so einfach und doch mit so viel Inhalt und dem großen Wunsch die nächste Geschichte "anzuklicken". Liebe Grüße feyea |
Lesezeichen für Memory Notes No. 3: Erziehungssache |
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