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Alt 29.01.2022, 12:29   #1
weiblich percaperca
 
Dabei seit: 01/2022
Ort: Langenthal
Beiträge: 5


Standard Mitten in der Luft 1

Er schätzte das Mädchen auf Anfang zwanzig, das von der gut 300 Meter entfernten Felsküste bis zu dem Riff geschwommen kam, auf dem er mit seinem Handtuch in der Spätnachmittagssonne lag und in seinen Notizen blätterte.

Er schob die Sonnenbrille auf seinen blonden Schopf und sah zu, wie es sich die schräge Felsplatte hinaufstemmte, aufrichtete und die Nässe aus den halblangen, brünetten Haaren schüttelte – mittelgroß, schlank, ein ebenmäßiges Gesicht mit einem schönen Mund und hohen Wangenknochen darüber.

„Hello“, sagte sie.

Er legte den Bleistift weg, an dem er gekaut hatte, und stand auf. „Hallo!“, gab er mit seiner tiefen Stimme zurück. Als das Mädchen sah, wie groß und wie athletisch gebaut er war, blieb es erschrocken auf der Stelle stehen und schien gleich wieder umkehren zu wollen. „Don’t be afraid“, sagte er rasch. „I’m nothing but a friendly sort of pitecanthropus erectus. Nobody will harm you on this peaceful island.”

Das Mädchen lachte, nahm das Haar nach vorn und drückte das Wasser heraus. „I didn’t realize you were such a big one when I saw you from the distance“, sagte es mit einem schwachen, slawischen Akzent in der Altstimme.

“You are searching for little boys only?”

„No!“ Sie lachte wieder und zeige dabei ein perlweißes, ebenmäßige Gebiss. „No, I just wanted to get the same view back to Spain as you.” Sie deutete auf sein Heft, das Buch und auf den Stift. “Are you a writer?“ Sie musterte ungeniert seine Aufzeichnungen. “Sind Sie Deutscher?”

“Ja. Und Sie? Tschechin?”

“Nein. Ich komme aus Leipzig, bin aber in Russland geboren.“
„Woher können Sie so perfekt Deutsch?“

„Meine Mama ist Deutsche; mein Papa ist Russe. Aus St. Petersburg. Ich studiere in Berlin. Und was machen Sie hier?“

„Ich stamme aus Bayern und bin ein Unterwassermann. Was studieren Sie denn?“

„Biologie. Eigentlich möchte ich Meeresbiologin werden, aber es ist wohl schwierig, damit später so viel Geld zu verdienen, dass man am Leben bleiben kann. Was ist das, ein ‚Unterwassermann‘?“

„Das ist einer, den es schon als Kind immer unter Wasser gezogen hat und der da nicht mehr herausgekommen ist. Der Tierarzt wurde und sich eingebildet hat, kranke Walfische wieder gesund machen zu können, jetzt aber herauskriegen soll, warum die Fische in den süddeutschen Seen, in Österreich und in der Schweiz neuerdings nicht mehr wachsen wollen.“

Das Mädchen sah ihn mit großen, blauen Augen an. „Was machen Sie dann hier in Barcelona? Urlaub?“

„Ich war mit einem Paper bei einem Kongress in Madrid. Jetzt bleib ich hier noch einen Tag in der Sonne sitzen, bei den Thun- und Tintenfischen, bis ich nach Haus zurückfahre, in den Herbst und in das Eiswasser des Eibsees hinein.“ Er hielt ihr eine große Hand hin. „Ich heiße Christian. Und Du?“

Sie gab ihm eine schmale, kühle Mädchenhand. „Ich bin Elena und verdiene hier während der Semesterferien ein bisschen Geld.“ Sie setzten sich gleichzeitig einander gegenüber hin.

„Geld verdienen? Hier in Barcelona? Als Deutsche oder als Russin? Womit denn?“ Er hatte die langen Beine angezogen und seine muskulösen Arme auf den Knien verschränkt.

Elena zögerte einen Augenblick. „Hier halten mich alle für eine Russin. Zusammen mit vier anderen, wirklich russischen Mädchen bieten wir zahlenden Gästen Events an.“

„Events? Was denn für Events?“

„Luftballonevents.“

„Luftballonevents?“ Er musste lachen. „Was ist das? Fliegt ihr zusammen mit Euren Gästen über die Stadt und über das Meer?“

„Nein. Wir blasen Luftballons auf, bis sie explodieren, zertreten, zerdrücken oder zerstechen sie, reiten auf ihnen, bis sie zerplatzen, zerknallen sie mit der Glut einer Zigarette. Dazu gibt es Musik, erst langsam, dann immer schneller und wilder. Es ist wie ein Tanz, wie ein choreografiertes Ballett.“

„Und dann?“

„Das ist alles. Die Gäste dürfen uns dabei nicht berühren, nicht fotografieren oder filmen, sondern nur zugucken. Wir sind bei den Aktionen nicht nackt, sondern tragen Bikinis, Badeanzüge, Kostüme, Latexkleider oder Latexhosen.“
„Und es gibt ein Publikum, das dafür bezahlt?“

Elena verzog das Gesicht. „Es scheint kaum glaublich, aber es sind jedes Mal gut drei Dutzend Kunden, die sich das ansehen und mit erigiertem Penis in der Hose darauf glotzen, was wir machen. Offenbar stimuliert sie das so sehr, was wir da anstellen, dass man meint, sie müssten am Ende auch zerplatzen. Es sind nur Männer, die dafür bezahlen, dass wir pro Abend ein paar hundert Luftballons knallen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken und so tun, als ob wir dabei die gleiche Wollust empfinden würden wie sie. An uns Mädchen direkt sind sie gar nicht interessiert; jedenfalls hat mich noch nie einer persönlich angesprochen.“

„Hält man das noch für normal?“

„Piotr, der das ganze veranstaltet, sagt, es sei ein Fetisch wie jeder andere; er selbst fahre auch darauf ab. Er geht kameradschaftlich mit uns um und hat noch nie eins von uns Mädchen angefasst. Ich glaube, diese Typen sind gar keine significant others, sondern befriedigen ihre Fantasien mit diesem Gummifetisch. Wir sind nur ein hilfreicher Vektor bei dieser Sache, sonst nichts.“

„Was denkst du und was denken die anderen Mädchen, wenn ihr vor diesem Publikum einen solchen Zirkus aufführt?“

„Am Anfang kommt man sich schon doof vor und stört sich an der Knallerei, aber dann merkt man, dass sich Spannung aufbauen lässt zwischen dem Publikum und uns, mit dem, was wir da machen. Im Endeffekt läuft es nicht viel anders ab als bei jeder Modenschau – die Models ziehen die unmöglichsten Sachen an, bewegen sich elegant und spreizen sich, bis sie fast genauso platzen wie die Ballons.“

„Wie bist du denn zu diesem Zirkus gekommen?“

„Durch eine Freundin. Sie hat mit ihrem Bruder Piotr Miniaturfilmchen für diese Szene gedreht, minutenlange Sequenzen, die man gegen Geld aus dem Internet herunterladen kann. Ich hab auch schon solche Clips gemacht und Geld dafür bekommen.“

„Erotisches Zeug?“

Elena lachte. „Das würde ich nicht so sehen. Es ging dabei immer und ausschließlich um die Luftballons. Du siehst auf den Filmchen nur, wie wir sie, allein oder zu mehreren, gnadenlos so lange quälen, bis auch der letzte zerplatzt ist.“ Sie suchte in Christians Augen nach Zeichen, ob er sie noch ernst nähme, aber er lachte unbekümmert mit. „Könnt ihr denn keinen Mann bei diesen Vorstellungen brauchen? Oder kennen Frauen diese Neigungen nicht?“

„Ich kenne keine. Eine ganze Reihe von Männern aus dem Publikum ist schwul. Sie sagen, sie litten nicht unter ihrer Fantasie, sondern zögen sie einer personellen, intimen Beziehung vor. Sie fänden dabei ihre Befriedigung besser und direkter; sie würden dabei, anders als im zwischenmenschlichen Bereich, nie enttäuscht. Ein Luftballon ist wehrlos und lässt fast alles mit sich machen. Bis er mit lautem Knall aufgibt. Dann bläst man sich einen neuen auf.“

„Und Paare? Gibt es Ehepaare, die sich diese Gefühle teilen?“

„Ich glaub nicht. Es sind nur ganz, ganz selten Ehefrauen oder Freundinnen bei den Vorstellungen unter dem Publikum. Sie lachen mit, wenn ihre Männer lachen, aber sexuell stimuliert werden sie ganz bestimmt nicht, da bin ich mir sicher. Sie sind, so sehe ich das, nur mit dabei, weil ihr Partner das möchte. Glasige Augen und eine dicke Hose bekommen während unserer Vorstellungen nur die Männer. Alle, ohne Ausnahme.“

„Wie erträgt ein Mädchen wie Du diese Augen? Was machen sie aus Dir?“
Elena blickte ihn ein paar Sekunden lang schweigend an.

„Du bist der erste Mensch, der mich das fragt. Am Anfang hab ich mich geniert und bin mir vorgekommen, als ob ich etwas Unrechtes tue, etwas vorspiegle, was ich gar nicht bin. Aber jetzt sage ich mir, dass ich mich ja nur verstelle wie jede andere auch. Ob als Model oder Schauspielerin, Politiker, Sängerin, Lehrerin oder als Priester: Wir spielen doch immer eine Rolle und dürfen nie wir selbst sein. Bezahlt wirst Du vom Publikum nur, wenn es nicht merkt, dass du es täuschst; wenn es dein Spiel mit der Wirklichkeit verwechseln kann. So war es, so ist es, und so wird es auch immer bleiben.“

Christian sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Er rückte an ihre Seite und legte seinen Arm ganz leicht über ihre geraden Schultern. „Stimmt. Es braucht Zeit, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, Unterschiede nicht als Hindernis zu sehen, sondern als Bereicherung. Anderssein kann das Schwarzweiß Deines Innenlebens farbig machen, wenn Du es zulässt. Aber das ist mühsam. Manchmal meinst Du, schon durch die Brandung gekommen zu sein und gerätst dann doch an die Klippe, die unter Wasser deine Hülle von vorn bis hinten aufreißt.“

„Aber so muss es doch nicht immer sein, oder?“

„Die Frage kannst du erst am jüngsten Tag stellen, Elena. Am besten fragst Du die abgesoffenen Passagiere der ‚Titanic‘, die wissen am besten Bescheid.“

Er wollte seinen Arm wieder von dem Mädchen nehmen, aber sie hielt seine Hand fest. „Was müsste ich tun oder sein, dass Du mich noch ein bisschen länger im Arm hältst?"

„Dafür gibt’s keinen Preis. Wenn überhaupt, kriegst du echte Zuwendung immer umsonst. Wenn du etwas dafür bezahlen müsstest, würde aus der Zuwendung ein Geschäft, und es finge an mit der Schummelei. Erst bescheißt du nur die anderen, dann auch dich selbst. Am Ende gehst Du daran kaputt.“

Elena blickte ihn wieder lange an. „Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber wenn Du jetzt aufstehst und gehst, für immer verschwindest, werde ich nie wieder so glücklich sein können wie gerade in diesem Augenblick.“

„Unsinn!“ Christian stand auf und bückte sich nach seinen Sachen. „Wie kann man so etwas zu jemandem sagen, den man erst vor einem Augenblick begegnet ist und von dem man so gut wie nichts weiß?“

Elena stand mit auf. „Ich kann das. Ich würde alles tun, was in meiner Macht steht, wenn Du mir noch ein bisschen Zeit schenkst.“

Geändert von percaperca (30.01.2022 um 00:02 Uhr)
percaperca ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.01.2022, 21:39   #2
männlich dunkler Traum
 
Benutzerbild von dunkler Traum
 
Dabei seit: 02/2021
Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
Alter: 60
Beiträge: 1.596


... wow, interessant und gut geschrieben, solche Events kannte ich noch nicht. Es dauert nur lange, bis der interessante Schluss kommt. Kommt noch ein Teil 2?
Ein paar Tippfehler sind noch drin.

wünsche schöne Träume
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.01.2022, 22:00   #3
weiblich percaperca
 
Dabei seit: 01/2022
Ort: Langenthal
Beiträge: 5


Danke für Dein Interesse und für Deine freundlichen Worte, "dunkler Traum".

Sei so gut und streich mir die Dreckfuhler an - sie sind wie eine Seuche und gehören sofort bekämpft!!

Einen "Schluss" kann's hier noch nicht geben - es ist die Einleitung einer Novelle. Wie bei einer Sinfonie oder einer Oper werden erstmal die Figuren und die Themen vorgestellt, bevor es ans Eingemachte geht.

lg

perca
percaperca ist offline   Mit Zitat antworten
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