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Alt 18.05.2022, 17:20   #1
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Standard Zeit des Umbruchs

Mit dreizehn schminkte ich mich zum ersten Mal und handelte mir damit das Donnerwetter meiner Mutter ein. „So takeln sich nur Freudenmädchen und Filmstars auf, aber keine anständigen Mädchen!“ Wörter wie „Nutte“ oder „Hure“ waren selbst in unserer Schicht der sogenannten „kleinen Leute“ nicht üblich, aber genau das meinte meine Mutter, als sie mir Freudenmädchen und Filmstars auftischte. Was sie mir signalisieren wollte, war: „Ich will nicht, dass du so herumläufst und mich blamierst.“ Ich schminkte mich trotzdem jeden Tag und zog dabei alle Register, inklusive flüssigem Lidstrich ober- und unterhalb meiner dunkelbraunen Pupillen.

Die Mädchen trugen damals Schuhe mit Blockabsätzen und Blusen mit breitem Kragen, daran gab es für Eltern und Lehrer nichts auszusetzen. Aber dann, als ich siebzehn war, kam der Minirock auf – je kürzer, desto besser. Ein Skandal!

Ich war in der Lehre im Büro eines Produktionsbetriebs der lederverarbeitenden Industrie, und als der Personalchef mich in einem stark gekürzten Kleid sah, hatte ich mir einen Erzfeind eingehandelt. Das Attribut „Flittchen“ flammte ihm aus den spießigen Augen, und seine Lippen zitterten vor erregter Empörung. Oder vielleicht vor empörter Erregung? Von diesem Tag an stand ich unter seiner besonderen Beobachtung und der kritischen Prüfung, ob ich meine Arbeit fehlerfrei erledigte – Arbeit, von der er null und nichts verstand und sich mit falsch erhobenen Vorwürfen mehrfach in die Nesseln setzte. Aber so konnte es gehen, wenn man wie er ein eigenes Unternehmen in den Sand gesetzt hatte und sich als kleines Licht in einem Unternehmen anstellen lassen musste, in dem man von niemandem ernst genommen wurde.

Ich war jung, hübsch, schlank und langhaarig, und wie ich um die Ecke herum erfuhr, handelten meine Kolleginnen meine Beine als die Objekte ihres Begehrens. So etwas sprach sich herum, landete aber erst in einem vertraulichen Gespräch mit einer Kollegin bei mir und war vor allem Wasser auf der Klappermühle unseres Personalchefs, dessen Gruß mich jeden Morgen erdolchte.

Es war die Crux meiner Jugend, dass ich nie mitbekam, was um mich herum geschah. Nicht nur, weil ich introvertiert veranlagt bin, sondern weil Nichtwahrnehmung ein hochwirksames Schutzschild gegen Vereinnahmung durch alles sein kann, was man als „in“ bezeichnet. Schon in der Schulzeit weigerte ich mich, die „Beatles-Mania“ mitzumachen. Statt dessen hockte ich zu Hause, hörte mir Schallplatten mit klassischer Musik an und las, soweit es sich um Opern handelte, die Libretti, weil ich verstehen wollte, welche Wörter sich in den hoch- bis tiefgestimmten Arien verbargen. Während die Pop-Kultur eine Band nach der anderen aus dem Boden stampfte, entdeckte ich Glenn Millers flotten Swing, die Schwermut der russischen Volkslieder und die bombastische Filmmusik von Miklos Rosza. Kurz gesagt: Ich lebte auf einer einsamen Insel, fernab der Trends einer Welt, in der man machte, was alle machten, weil man es halt so machte.

Bis mich Sputnik hofierte. Natürlich hieß er anders, aber weil er ständig um mich herumschwirrte, nannte ich ihn Sputnik. Da war ich achtzehn, das Jahrzehnt stand kurz vor dem Wechsel in die Siebziger, in der Welt tobten die Studenten, in Berlin wurde auf Rudi Dutschke geschossen, Kanzler Kiesinger wurde von Beate Klarsfeld abgewatscht, und jeden Tag flimmerten desaströse Bilder vom Vietnamkrieg durch die Kiste. Und ich verstand von alldem nichts.

„Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“, sagte Sputnik und schenkte mir eine Tafel Schokolade, lud mich zum Essen ein und bezahlte mir die Bahnkarte, um zu ihm nach Hause zu fahren und den Tag mit ihm zu verbringen. Aus der Schokolade wurde ein Freundschaftsring aus echtem Gold, danach ein Armband aus echtem Gold, und noch weiter danach ein Ehering aus Weißgold, weil ich schwanger war.

So machte man es halt: Man verliebte sich, erforschte sich, wurde schwanger, heiratete und gründete einen Hausstand. Die Eltern hatten es vorgemacht, also wusste man, wie es funktioniert.

Wir waren blind für die Zeichen der Zeit. Opfer eines nicht wahrgenommenen Übergangs. Denn nichts war noch so, wie unsere Eltern es uns vorgelebt hatten. Während Sputnik und ich unser Nest bauten, während ich Baby-Kleidung nähte und winzige Pullover häkelte, war draußen die Welt im Umbruch. Frauen kämpften um das Recht auf eigenes Geld, auf ein eigenes Bankkonto, auf einen eigenen Beruf, auf Selbstbestimmung über ihr Leben. Oswald Kolle brach das Tabu unterdrückter Sexualität, und hunderte prominenter Frauen bekannten: „Ich habe abgetrieben.“

Sputniks jüngerer Bruder ließ sich auf eine Kommune ein und trug nur selbstgenähte Hemden. Ich lernte junge Männer kennen, die Pullover strickten und glaubten, mit jeder Masche die Gesellschaft verändern zu können, während Frauen Werkzeug in die Hand nahmen und sich ihre Küchen selbst einbauten.

Im Kino präsentierte uns Romy Schneider einen neuen Frauentyp, nachdem sie zum Star des französischen Films gereift war: stark und selbstsicher, dennoch verletzlich und blütenzart. Da waren die Jahre der deutschen Werbung, mit der „Frauengold“ die Nerven der gestressten Hausfrau beruhigen sollte, noch nicht lange her. Und ich verstand von alldem nichts. Aber ich begann, nachzudenken. Und aufzuholen.

Sputnik und ich, wir waren durch die rückwärtsgewandten 50er und 60er Jahren sozialisiert, blank wie der Kaiser ohne Kleider in die 70er Jahre getaumelt und standen plötzlich auf einer brüchigen Hängebrücke über der Schlucht zwischen dem einen und dem anderen Ende. Wir standen zwischen vorwärts und rückwärts und begannen zu ahnen, dass uns weder vorn noch hinten Besseres erwartete, aber auch, dass wir nicht stehenbleiben konnten. Wir konnten steckenbleiben oder uns entscheiden.

Völlig klar, dass meine Ehe mit Sputnik diese Belastungsprobe nicht aushielt. Welche Ehe hält seit damals noch Brücken aus? Letztendlich musste einer von uns beiden die Entscheidung treffen. Ich lief geradeaus, und die Brücke hielt. Sputnik steht noch immer dort, seiner Berufung zu schwirren völlig beraubt. Aber er hat sich schon umgedreht. Immerhin. Nach so vielen Jahren.

18.05.2022
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