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Alt 29.04.2022, 19:45   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Jonas, der Spiegel und die Wutz

„Heute ist der Tag. Ich muss etwas ändern, und heute geht’s los!“ Jonas stand vor dem Spiegel und streckte seinem Widerpart die Faust entgegen. „Alles wird sich ändern, du Schlappschwanz, und du wirst mich nicht länger daran hindern. Ich habe dir schon zu viel durchgehen lassen, aber dieses Mal werde ich stärker sein als du. Verlass dich drauf!“ Nach dem Rausbellen dieser Sätze fühlte er sich bereits um einige Grad besser als zwei Minuten zuvor – ein guter Einstieg, wie er fand. Beinahe hatte er das Gefühl, dass sein Körper trotz seiner achtundvierzig Jahre wieder begonnen hatte, zu wachsen.

Jonas stemmte die Hände in die Hüften, straffte seine Schultern und spannte trotzig den Hals, bis von seinem Doppelkinn fast nichts mehr zu sehen war. „Du glaubst mir nicht, aber ich werde es dir zeigen, du mieses Stück Scheiße. Ich komme da raus, und wenn wir uns das nächste Mal gegenüberstehen, wirst du mich nicht mehr erkennen. Das schwöre ich dir!“

Er wandte sich von dem Spiegel ab, drehte sich aber nochmal um und schrie ihn an: „Hast du nicht gehört? Ich schwöre es, du Mistkerl Und wenn ich meinen Schwur nicht halten kann und du mich bei unserem Wiedersehen auslachst, dann, und das schwöre ich auch, schlage ich dir die Fresse ein!“

Er hatte einen Doppelten getrunken, quasi als Kehraus, denn es sollte sein letzter sein. Die Flasche, noch dreiviertelvoll, hatte er in den Barschrank zu den anderen Spirituosen gestellt, ihn abgeschlossen und den Schlüssel aus dem Fenster in den Vorgarten geworfen. Mit geschlossenen Augen, um seinen Synapsen keine Chance zu geben, eine ungefähre Landkarte des Verbleibs zu zeichnen und sie in einer ihrer Gedächtnisschubladen zu verwahren.

Es war Jonas ernst. „Wenn Sie so weitermachen, sind sie in sechs Monaten tot.“ Mehr hatte sein Hausarzt nicht gesagt, aber diese Feststellung hatte die Durchschlagskraft einer Panzerfaust gehabt. Jonas hatte daraufhin drei Entschlüsse gefasst: erstens länger als nur noch sechs Monate zu leben, zweitens seine Gewohnheiten zu ändern, drittens vor dem Rückzug in die Vernunft eine Woche lang nochmal gründlich die Wutz aus dem Stall zu lassen.

Er hatte einen Kredit aufgenommen und mit seinen Investitionen bei der Wutz angefangen. Fünfmal war er ins Bordell gegangen, fast jeden Abend zum Italiener, um sich Spaghetti und Pizza in den Wams zu jagen, anschließend in die Kneipe, in denen er Runden geworfen hatte, bis er der Ohnmacht so nahe war, dass er sich in einem Taxi nach Hause fahren lassen musste, und jeden Tag hatte er die Zwischenräume seines Verlangens mit den Vorräten seines Barschranks randvoll gefüllt. Nach exakt einer Woche hatte er, unbestechlich und nach Plan, die Freiheit der Wutz beendet.

Der zweite Entschluss war weniger kostspielig gewesen. Die Investition bestand aus einem Hometrainer, auch Standfahrrad genannt, einem strombetriebenem Laufband und einem Buch mit dem Titel: „Wie ernähre ich mich richtig.“

Der erste Entschluss war kostenlos, denn er bestand lediglich darin, ihn mit Entschluss zwei zu koordinieren, nämlich den bedrohlich gewordenen Gewohnheiten ein gesundheitsförderndes Programm zu verpassen. „Ran an die Bouletten,“ sagte sich Jonas und nahm den Hometrainer unter die Füße. Der Effektivität willen stellte er den Schwierigkeitsgrad auf Höchststufe. „Wenn schon, denn schon.“

Nach der zehnten Umdrehung kam ihm der Verdacht, sich überschätzt zu haben. Schnell merkte er, dass er nicht nur Füße und Waden hatte, sondern auch Oberschenkel. Und die gingen zum Gegenangriff über. „Gottverdammich!“ Jonas ächzte, trat weiter und spürte, wie ihm die Halsadern dicker und die Lungenflügel enger wurden. Die Oberschenkel leisteten erbitterten Widerstand, und als Jonas von den Schläfen bis zu den Herzkammern ein Trommelfeuer war und nur noch nach Luft japsen konnte, gab er auf.

Sein Blick auf das Display war ernüchternd: Er hatte keine drei Kilometer durchgehalten, ohne schlapp zu machen. Doch er ließ sich nicht entmutigen. „Auf die richtige Ernährung kommt es an. Und außerdem ist morgen auch noch ein Tag.“

Er schnippelte Gemüse und kochte sich einen Eintopf. Nur Gemüse. Kein Fleisch. Weder Kartoffeln noch Reis. Mit viel an Gewürz ging das die Kehle runter bis in den Magen. Und noch weiter. Ergebnis: Durchfall.

„Scheiß drauf!“ Nach dieser Erfahrung brauchte Jonas einen Drink, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Doch im Schloss des Barfachs, hinter dem sich die Tröster verbargen, steckte kein Schlüssel mehr.

Also begab sich Jonas in den Vorgarten und befingerte alles, was dort wuchs und blühte. In seiner Verzweiflung hätte er am liebsten jedes Blatt und Blümchen zu Unkraut deklariert und ausgerissen, um den nackten Boden inspizieren zu können, aber das traute er sich letztendlich nicht, um nach allem, was er durchgemacht hatte, nicht noch einen Krieg mit seinem Vermieter ausfechten zu müssen.

Er schnüffelte wie ein dressierter Hund, fand jedoch den Schlüssel nicht und entschloss sich, den Schrank zu opfern. Nachdem er das Schloss des Barfachs mittels eines Schraubenziehers geknackt und sich über Cognac, Pflaumenschnaps und Wodka hergemacht hatte, überfiel ihn Heißhunger. Im Eisfach fand er noch ein Hüftsteak, das er so, wie es war, in die Pfanne kloppte und das er, weil sein Magen nicht warten konnte, bis es durch war, halbroh und lauwarm verschlang.

Dann trat er vor den Spiegel, einen Stein in der Hand, und betrachtete sein Ebenbild. „Ich hatte es dir geschworen, du Arschloch!“

Er warf und traf sein Ebenbild mitten ins Gesicht, doch der Spiel barst nicht. Er bekam Risse, hielt aber stand.

Ungläubig starrte Jonas in sein kunstvoll zerstückeltes Antlitz. „Nun gut. Es geht weiter. Aber nicht heute.“ Und da ihn eine unwiderstehliche Müdigkeit überkam, begab er sich zu Bett.

Drei Jahre später:

„Ihre Werte sind eine Katastrophe. Wenn Sie so weitermachen, sind sie in drei Monaten tot.“

„Okay.“

„Sie sollten ihre Gewohnheiten ändern. Sich gesünder ernähren. Sport treiben.“

„Okay.“

„Sie haben also verstanden?“

„Klar. Okay. Wir spielen dieses Spielchen doch schon seit einigen Jahren.“

„Aber geändert haben Sie bis heute nichts.“

„Nö.“

„Haben Sie mal in den letzten Tagen in den Spiegel geschaut.“

„Jo, habe ich.“

„Und?“

„Er hat zu mir gesprochen.“

Der Arzt warf Jonas einen tadelnden Blick zu. „Finden Sie meine Frage lustig?“

„Aber es ist wahr“, verteidigte sich Jonas. „Der spricht mit mir.“

„Er sagt aber nicht, Sie seien ein König und der Schönste im ganzen Land.“

„Das gerade nicht. Er sagt zum Beispiel: Wenn du wieder einen hebst, dann komm mit dem Glas zu mir und stoß mit mir an. Und vergiss, dass wir mal Feinde waren!“
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.04.2022, 23:30   #2
männlich dr.Frankenstein
 
Benutzerbild von dr.Frankenstein
 
Dabei seit: 07/2015
Ort: Zwischen den Ostseewellen ertrunken
Alter: 41
Beiträge: 5.467


Nabend

Intressante Weisheiten zusammengefügt. Gefällt mir.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.05.2022, 10:27   #3
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.878


Au weia, liebe Ilka-Maria, "mann" fühlt sich erwischt und ich habe vorsorglich meinen Spiegel im Flur verhängt.
Zu Beginn Deiner Geschichte, die von Männerkenntnis Zeugnis ablegt, habe ich einmal richtig gegrinst:

Beinahe hatte er das Gefühl, dass sein Körper trotz seiner achtundvierzig Jahre wieder begonnen hatte, zu wachsen.

Welcher Mann in diesem Alter (Gott mag es schenken, dass er die Lebensmitte erreicht hat) kennt nicht dieses hoffnungsverheißende Gefühl des zumindest punktuellen Wachsen seines Körpers, respektive Körperteils?
Die guten Vorsätze zwecks Lebensverlängerung, o je, da durchströmen Peinlichkeitsgefühle die graumelierte Männerbrust! Immerhin, stolzgeschwellt und zur Rettung der Männerehre kann ich Dir verkünden: Am 13. August 2021 (warum am 13.8.? - keine Ahnung) habe ich meine letzte Zigarette, bei einem Konsum von mindesten einer fünfundzwanziger Packung pro Tag, geraucht.Das Blöde an der Sache ist, dass meiner Erfahrung nach statt der Qualmerei ein anderes Laster den leeren Platz einnimmt. Vorteil: Das neue Laster ist preiswerter.

Liebe Grüße,
Heinz
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