Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 30.01.2022, 11:42   #1
weiblich percaperca
 
Dabei seit: 01/2022
Ort: Langenthal
Beiträge: 5


Standard Mitten in der Luft 2

Elena sah ihn auf seine Uhr blicken. Die Omega Seamaster erschien ihr am Handgelenk seines muskulösen Arms wie eine zierliche Damenarmbanduhr. „Hat dich noch nie ein Mädchen um Zeit gebettelt?“, fragte sie.

Sie setzten sich beide auf den harten Fels zurück; er legte wieder sanft seinen Arm auf ihre Schultern. „Das kam schon mal vor.“

„Und wie hast du darauf reagiert?“

„Als ich noch jünger war, ging mir das auf die Nerven und ich hab immer gemacht, dass ich wegkomme. Heute nehme ich solche Bitten ernster und frag mich, warum man ausgerechnet einen wie mich um Zeit bittet, bevor ich dann doch wieder davonrenne. Manchmal, so wie jetzt, wird mir aber klar, dass so etwas gar keine unverbindliche Bitte ist, die nur so dahinsagt wird, sondern ein Hilferuf, den man ernst nehmen sollte.“

Er blickte wieder auf die Uhr. „Ein bisschen Zeit hab ich noch.“ Er breitete sein Handtuch wieder auf den Felsen und streckte sich bäuchlings darauf aus. „Leg Dich auf meinen Rücken. Trau dich und leg dich auf meinen Rücken.“ Er sah sich nicht um nach ihr, sondern hatte den Kopf auf seinen verschränkten Armen und sprach in den Fels, auf dem er lag.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann spürte er sie über sich kommen - ihre Wange zwischen seine Schultern, ihren Schoß auf seinem Hintern, ihre Beine zwischen den seinen. Die beiden passten so gut zusammen, als wären sie füreinander gemacht. Fast wollte sie es schon sagen, biss sich dann aber auf die Lippen; es wäre ihr doch zu plump gewesen.

Sie schien ihm leicht wie eine Feder. „Es ist dies die sicherste und bequemste Art für Mädchen, mit einem Jungen nah beisammen zu sein. Ich kann dir keine Gewalt antun oder dich an Stellen berühren, wo Du es nicht möchtest. Du bist safe, kannst gefahrlos einschlafen oder wach bleiben und mir ungeniert ins Ohr flüstern, wonach du dich so sehnst, dass du einem wie mir so schnell auf dem Rücken kletterst.“

Elena schob sich auf ihm zurecht und fühlte sich einen Moment lang frei und so glücklich wie nie zuvor. Sein breiter, braungebrannter Rücken schien ihr wie ein Wall, hinter dem sie in Deckung gehen konnte, ein Fundament, von dem aus sie Übersicht bekam über alles, was hinter ihr lag.

Sie begann zu erzählen von einer Zeit in St. Petersburg und in Leipzig, von einer schwierigen Kindheit, von der Scheidung der Eltern und von dem Riss, den sie in sich trug, seit sie nach Berlin gezogen war, um zu studieren. Dass sie dort anfangs Geldsorgen gehabt hätte und als au pair, als Bedienung, als Zeitungsausträgerin und als Model für Versandkataloge gejobbt hätte, um sich und ihr Studium zu finanzieren, bis eine gute Bekannte mit Piotr angekommen sei und die Sache mit den Luftballons angeboten habe. „Kein Sex, keine Nacktfotos, nichts wirklich Erotisches. Kein rubber girl, sondern ein looner girl. Seitdem bin ich zwar die schlimmsten Geldsorgen los, aber gleichzeitig bin ich nichts mehr. Nichts. Nicht mal ein Mensch. Nur eine Fata Morgana, eine Imagination, eine mechanische Chimäre, die dafür bezahlt wird, dass sie sich auf Knopfdruck quietschend zu drehen und zu knallen beginnt. Ich fühle mich unmenschlich!“ Sie ließ sich von ihm herabrollen und blickt mit schwimmenden Augen in sein Gesicht.

„Hast Du denn keine Freundinnen oder Freunde, mit denen Du darüber reden könntest?“

„Niemanden, dem ich das hätte sagen können wie eben gerade dir. Vor allem meiner Mutter nicht. Dass ich mich so allein fühle, ausgestoßen, wertlos, missbraucht, obwohl mich niemand berührt.“

„Warum erzählst du das ausgerechnet einem wie mir? Einem Wildfremden? Mitten in Spanien, auf einer vom Meer umgebenen, kahlen, winzigen Felsklippe? Allein mit einem, den du vielleicht besser nie getroffen hättest?“

Elena konnte wieder lächeln. „Seit heute weiß ich, dass es dich gibt. Du hast mich angeblickt, hast den ersten Satz gesagt und ich war auf einen Schlag ganz allein mit dir auf der Welt. Es hat „zoom!“ gemacht; es wird nie wieder so sein wie zuvor. Vielleicht hat es damit zu tun, dass man noch nie mit einem significant other auf einer winzigen Insel mitten im Meer so eng zusammenkommen konnte. Ich lebe plötzlich wieder ein Menschenleben; das irrwitzige Karussell, das sich immer schneller um mich gedreht hat, steht still. Ich kann Fragen stellen, die mir noch nie jemand beantwortet hat.“

„Ja“, sagte er, „es gibt diese Situationen, wo man, auf sich selbst zurückgeworfen, klarer sieht als sonst und Antworten auf Fragen findet, die man sich sonst gar nicht stellen möchte. Ich kenn das vom Schwimmtraining – den Kopf unter Wasser, allein mit sich selbst und mit seinen Gedanken. Oder wenn du in ein unbekanntes Gewässer eintauchst, ohne zu wissen, was auf seinem Grund auf dich wartet. Die lange Zeit, bevor du in dieser düsteren Welt irgendeinen Weg erkennen kannst. Wenn du Glück hast, führt er dich zu einem Ziel. Wenn du Pech hast, kommst du ins Dickicht des Kelpwaldes, dann frisst dich der Hammerhai. Oder du wirst im Alltag ertrinken.“

Er machte sich los von ihr, packte seine paar Sachen in die Neopren-Umhängetasche, die er dabei hatte, und zog den wasserdichten Reißverschluss sorgfältig zu. Dann hielt er ihr seine Pranke hin. „Ich wünsch dir viele glückliche Momente in deinem Leben, Elena. Halt die Augen offen und lass dir nichts erzählen, sondern finde selber zu deiner Geschichte. Es gibt sie immer, diese Geschichten; du musst nur den Mut haben, sie anzufangen. Dann erzählen sie sich ganz von allein.“

Er sprang mit der Umhängetasche an der Seite ins Meer, kam erst nach einer halben Minute weit draußen wieder hoch und kraulte so zügig und gradlinig ans Ufer zurück, dass sie ihm nie hätte folgen können. Sie blieb sitzen und sah ihm nach. Dann stand sie auf, um mit ihren Gefühlen besser zurechtzukommen. Die Sonnte war schon fast hinter dem hügeligen Horizont verschwunden. In einer Stunde würde es dunkel sein; sie musste sich für das Abendspektakel zurechtmachen.

Sie sah sich zur Wollust der Zuschauer durch einen Regen großer, bunter Luftballons tanzen, sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen zum Platzen bringen und wusste, dass es anders sein würde als zuvor. Kein das Publikum und sich selbst verachtendes Gehopse und Geknalle mehr, sondern etwas Befreiendes. Etwas wie ein lautes Gewitter, hinter dem ein klarer Himmel und klare Gedanken auf sie warteten.

Sie würde als Andere nach Berlin zurückkehren und in ihrem Studium das suchen, was er offenbar schon gefunden hatte. Sie kannte nur seinen Vornamen, hatte keine Adresse und keine Telefonnummer, sondern wusste nur, dass er in Süddeutschland zu Hause sein musste. Sie würde ihn finden. Sie würde nach ihm suchen und ihn wiederfinden. Sie würde Tausende von Luftballons knallen oder steigen lassen – irgendwann würde er sie hören oder sehen und wieder auf den Rücken nehmen wie gerade eben. Sie blickte angestrengt über das Meer, aber von ihm war nichts mehr zu sehen.

Elena sprang ins Wasser und schwamm langsam zurück, nicht mehr irgendwo im Nirgendwo, sondern sie hatte ein Ziel. Sie hielt einen Moment inne, um die Wärme und das Glücksgefühl auszukosten, die mitten im dunklen Wasser in ihr aufstiegen. Dann machte sie weiter, bis es hell um sie wurde und sie über den Sandgrund ins Trockene waten konnte. „Angekommen!“, sagte sie zu sich, „du bist endlich angekommen, du Knallschote!“
percaperca ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Mitten in der Luft 2

Stichworte
novelle



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Mitten in der Luft 1 percaperca Geschichten, Märchen und Legenden 2 29.01.2022 22:00
Mitten in die Leere nimmilonely Düstere Welten und Abgründiges 0 16.10.2014 17:12
Mitten im Sommer Ex-Peace Sprüche und Kurzgedanken 4 16.02.2012 13:56
Mitten in der Stadt bl4cky Humorvolles und Verborgenes 0 10.01.2012 23:51


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.