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Alt 21.05.2008, 00:03   #1
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Standard Im Fort

04.07.2026
Ich schreibe diese Zeilen in der Hoffnung, dass sie eines Tages gefunden und gelesen werden, damit sich unser Schicksal nicht im Dunkel verliert und wir nicht gänzlich in Vergessenheit geraten.
Gestern Nacht gab es wieder einen Angriff, diesmal auf das Westtor und die schwache östliche Pforte, welche gerade erst notdürftig repariert worden war. Die gegnerischen Truppen schienen äußerst gut organisiert und sehr motiviert, so dass wir große Mühe hatten, die Stellung zu halten. Welche Verluste der Feind zu erleiden hatte, lässt sich nicht abschätzen, auf unserer Seite sind zwei Tote und drei schwer Verwundete zu beklagen, womit die Anzahl der Wehrfähigen auf achtundsechzig sinkt. Die meisten davon sind allerdings nur bedingt einsatzfähig, übermüdet und ausgelaugt. Das Lazarett ist überfüllt, Ärzte und Krankenschwestern arbeiten im Akkord, die Vorräte an Medikamenten und Verbandszeug gehen zur Neige. Lebensmittel und Trinkwasser reichen, bei strenger Rationierung, noch für eine Woche. Wenn in dieser Zeit kein Transport durchkommt, sind wir verloren.
Um die Moral zu heben, erzählen die Leute sich Geschichten über einen baldigen Entsatz, in der Kapelle wird pausenlos gebetet, jedes gelegentliche, entfernte Motorengeräusch wird gedeutet als das eines heranschwebenden Hubschraubers, der uns aus dieser auswegslosen Situation herausholt. Oder wenigstens Verstärkung hereinbringt. Wir stehen in ständigem Kontakt zu den umliegenden Forts, überall die gleiche Notlage. Es scheint, als wären wir dem Gegner unterlegen, zahlen- wie kräftemäßig. Am Sonntag ging St Remigius verloren, es war wohl Verrat im Spiel. Ansonsten kann ich mir nicht denken, wie eine derart starke Festung untergehen kann. Das Schicksal der Bewohner mag ich mir kaum vorstellen, aber man weiß darum: die weniger Betuchten werden auf der Stelle massakriert, Beamte und Bessergestellte werden in die Rentensklaverei verschleppt. Sie müssen ihre Bezüge den Siegern zur Verfügung stellen und ihre Testamente zu deren Gunsten ändern und werden dann in Lagern knapp am Leben gehalten, unter den unwürdigsten Bedingungen.
08.07.2026
Gerade komme ich von einer Lagebesprechung, jetzt wird die Munition knapp. Wir werden das Gartenhaus abreißen und die Steine in die oberen Stockwerke schaffen, um sie als Wurfgeschosse zu verwenden. Schade, ich habe ruhige Stunden verbracht in dem wunderschön angelegten Garten mit seinen Hochbeeten voll duftender Kräuter und Blumen. Jetzt aber verleiden die vielen frischen Gräber den Aufenthalt.
Herr Merkurt und Frau Bodewitz aus der Abteilung für unheilbare Krebsfälle haben sich freiwillig bereit erklärt, beim nächsten Angriff einen Ausfall zu unternehmen. Wir werden ihre Elektromobile zu rollenden Bomben umbauen und sie wollen versuchen, bis in die Nähe der gegnerischen Führer zu gelangen, um dort sich und möglichst viele Feinde in die Luft zu sprengen. Bedauerlich, dass wir uns gezwungen sehen, zu solch unritterlichen Mitteln zu greifen. Wir werden ihnen einen Großteil unserer Morphiumvorräte verabreichen, damit sie nicht zu sehr leiden.
12.07.2026
Es ist ein wunderschöner Sommertag, gerade richtig zum Sterben. Die Außenwände sind zerstört, wir haben uns in der Kapelle verschanzt und erwarten das Ende. Die Kampfmoral ist dahin, viele haben ihre besten Kleidungsstücke angezogen und ihre Rentenbescheide gefälscht, um vielleicht doch noch einem sofortigen Tod zu entkommen. Nur einige wenige außer mir sind entschlossen, Widerstand bis zum letzten zu leisten. Wir haben unsere Krücken angespitzt und bilden eine geschlossene Reihe vor der Tür, die Rollstuhlfahrer vorne, dahinter die Rollatorabteilung. Selbst ein Bettlägriger hat sich gemeldet und bildet die Nachhut.
Ich muss jetzt aufhören zu schreiben, von draußen erklingt der Kampfschrei "Her mit der Pension" aus Hunderten jugendlicher Kehlen. Gnade haben wir nicht zu erwarten.
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.05.2008, 00:51   #2
apnoe
 
Dabei seit: 01/2007
Beiträge: 785


lieber lyrwir, als ich zu lesen begann, dachte ich noch..hm..das ist ja nicht grad dein thema...der wilde westen.der hubschrauber ließ mich schnell stutzen..und nun am ende musste ich lachen..also so, wie sagt man, hinter vorgehaltener hand.
klein-produktives angemerkt:
die weniger betuchten > die weniger Betuchten?

die geschichte entwickelt sich fein. aus der normalität in die absurdität zu einer gewissen irr-realität..und ist zu ätzend, um nur einfach ein wenig polit-satirisch zu sein. echt starker tobak.
eine frage stelle ich mir allerdings...
du bist dir sicher, dass es noch rentenzahlungen gibt im jahr 2026?
das wäre dann ja direkt ein hoffnungstext...trotz aller diskrepanzen.

doch,ja. ein echter lyrwir. es ist dein thema.
bitter am schmunzeln,
lg a
apnoe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.05.2008, 06:55   #3
Pegamund
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 133


Heia lyrwir,

was soll man dazu sagen? Dein Thema, Dein Stil, Dein Spiel. Ja, auch gelacht, mit Verschluckung undso. Wie alt bin ich 2026?
Erst 46, oder? Naja, mal guggn ...

Liebe Grüße, Pega.

.
jetzt online:
Der letzte Schrei - ist Emo / Gretchenfragen. Extra dumm. / Das °-+#? §<^~
Pegamund ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.05.2008, 15:00   #4
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Liebe Apnoe, danke für deine Antwort, Korrektur ist vorgenommen. Ja, 2026 ist das letzte Jahr, in dem es Rentenzahlungen gibt. 2027 wird das Geld abgeschafft (das Zeug ist eh nichts mehr wert) und dann...aber das wird eine andere Geschichte.
Manchmal bleibt nicht mehr als zu schmunzeln.
Heia Pega, mit 46 kannst du dich dann auf die Rente freuen. So 2066 wird es wohl werden.
Liebe Grüße euch,
LW
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.05.2008, 15:06   #5
labahannes
 
Dabei seit: 08/2007
Beiträge: 127


Hi lyrwir, ja ich werde dann vieleicht einer derjenigen sein die das Fort stürmen, oder doch nicht was weiß ich aber auf jeden Fall genial geschreiben(entwickelt sich schön vom wilden Weste, zum neuzeitkrieg bis halt zum Ende). Das luustige ist, man liest das Datum gar nicht, weil man denkt es ist halt nen typsisches Tagebauch(ich auf jeden Fall nicht).

Gern gelesen

Johannes
labahannes ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.05.2008, 19:43   #6
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Hallo Johannes,
2026 bist du bestimmt Professor für Germanistik in Timbuktu (ausgewandert in der letzten Welle 2019, bevor die Grenzen geschlossen wurden (die in Afrika)). Da hast du dann ganz andere Probleme .
Danke für das Gefallen und die Antwort und immer schön das Datum mitlesen.
LG,
LW
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.05.2008, 20:28   #7
erstmalsooderwie
 
Dabei seit: 11/2007
Beiträge: 79


Lieber lyrwir,

auch ich musste schmunzeln, aber es war eher ein bitteres, gequältes Lächeln. Mal wieder lese ich eine deiner Kurzgeschichten, die so harmlos, so einlullend beginnen und mich gegen Ende wie jedes Mal mehr oder weniger schleichend vor den Kopf stoßen. Eindeutig: Schleichend stößt es sich besser.
Werde eines Tages ich vor dem Fort stehen? Sicher, es hört sich witzig an, vielleicht schwachsinnig. Aber das Problem ist da. Höchstwahrscheinlich liegt es an meiner Generation, eine Lösung zu finden. Aber hey - man lässt sein Bestes oder tut es.
Wunderbar geschrieben, ich musste schmunzeln.

Mal wieder sehr ungern gelesen.

erstmal.Ende
erstmalsooderwie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.05.2008, 19:28   #8
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Hallo lyrwir,

ich schließe mich einfach der großen Lobhudelei an (die hast Du auch verdient). Ab "Wir haben unsere Krücken angespitzt" musste ich lachen. Da war alles klar. Sehr schön übertrieben, innovativ, lustig mit ernstem Hintergrund. Spitze.

womit die Anzahl der wehrfähigen auf achtundsechzig sinkt
Die Wehrfähigen müssen großgeschrieben werden.

Liebe Grüße

Struppi
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.06.2008, 18:57   #9
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Hallo erstmalso,
ist mir ein Vergnügen, dich zu quälen. Gerne wieder.
Hallo Struppigel,
danke.
LG,
LW
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
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