Eine Biene
Ein warmer Frühsommerabend. Eher zufällig entdecke ich hinter einem der Blumentöpfe eine junge Biene. Völlig apathisch liegt sie da auf der Fensterbank, ist aber noch am Leben. Sie muss eine Gehirnerschütterung haben, denke ich, und ein schweres Trauma. Wer weiß, wie oft sie gegen das ihr unbegreifliche Hindernis geprallt ist, das ihre blaue und grüne Welt verhexte. Ich öffne das Fenster und setze sie mit Hilfe eines Kärtchens auf das äußere Sims. Sie fliegt nicht weg, versucht es nicht einmal. krümmt sich vielmehr zusammen zum Sterben.
Das kleine Geschöpf tut mir so leid. Vielleicht ist es noch nicht zu spät für einen Rettungsversuch. Ich mische ein wenig Honig mit Wasser und bereite ihm ein Pfützchen, knapp einen Fingernagel groß. Lange reagiert die Biene nicht, als hätte sie verlernt, ihren Sinnen zu trauen. Dann schiebt sie sich doch die paar Millimeter hin zu dem vertrauten Duft, zögert wieder - endlich entrollt sie den Rüssel und beginnt zu trinken.
Und trinkt.
Und trinkt.
Wie groß ist ein Insektenmagen? Oder erreichen die Nährstoffe ohne Umweg die richtigen Stellen? Als das Bienchen etwa die Hälfte des Honigsees trockengelegt hat, macht sie eine kleine Pause. Dann bringt es sich in eine neue Position und saugt weiter. Bei der zweiten Pause kann man eine Veränderung sehen: der Hinterleib hat sich gestrafft, die Beinchen stehen sicher.
Immer weiter stärkt sich die Biene. Das Schicksal nimmt, das Schicksal gibt, mag sie denken. Falls sie denkt. Sie mag dem Bienengott danken. Falls sie einen hat. Endlich ist sie satt und auch kräftig genug für den Neubeginn, den sie mit einer rituellen Handlung markiert: sie putzt ihre Antennen. Erst den einen, dann den anderen Fühler zieht sie durch die Vorderbeine und wiederholt das Ganze. Dann fliegt sie hoch hinauf und davon. Ins Grüne. Ins Blaue. Ins Leben.
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