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| Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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#1 |
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ich ahn, wohin der mutter bruder fuhr
heut lässt sich leichthin über seiten surfen mit links ein blick auf weitere winkel werfen bis sich entschleiert eines wegs kontur nicht weine, schlösser, fernen meers azur ernüchterung lässt mich in tieferem schürfen als wollten mich vergessene geister nerven die wegweiser mancher verwehten spur bordeaux, die stadt am meer, ist frankreich pur schrieb er im fahrn, und dass sie münzen würfen um austern oder anderes salz zu schlürfen da stößt sein kumpel ihn und jammert nur dass sie hier wieder nicht links fahren dürfen dort steht cognac. rechts geht`s nach oradour |
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#2 |
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Oh spannend, erstmal das Reimschema finde ich interessant!
Je nachdem, wie eng man es fasst, lassen sich surfen/werfen und schürfen/nerven gut zusammenpassend lesen, aber der kleine klangliche Unterschied, strophenübergreifend passend, macht auch viel her. Und dass die Terzette mit würfen/schlürfen/dürfen auch dicht dran sind, aber eben nicht ganz, das ist cool Ich mag deinen Art, die Sprache zu verwenden! Inhaltlich muss ich eingestehen, brauche ich noch kurz. Es hat etwas mit Krieg zu tun, verstehe ich das richtig? ich kann es im Moment nur an der Feldpost festmachen, aber deine Zeilen machen Lust, tiefer einzutauchen! Soviel erst einmal ![]() Liebe Grüße Delf |
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#3 |
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Forumsleitung
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Absolut richtig. Oradour, wie der Ort richtig heißt, wurde im Frühsommer 1944 von Soldaten der deutschen Wehrmacht erbarmungslos heimgesucht. Etliche hundert Dorfbewohner wurden getötet, kaum einer entkam. So hat jeder Krieg sein Butscha - manche Kriege haben davon sogar viele.
Ein französischer Kinofilm mit Romy Schneider und Philippe Noiret hat dieses Thema verarbeitet. Er heißt "Le vieux fusil" ("Das alte Gewehr") und war in Deutschland lange unbekannt, weil sein Verleih verboten wurde. So viel zur künstlerischen Freiheit und dem Recht auf Meinung. Inzwischen ist der Film verfügbar, allerdings unter dem dämlichen und irreführenden Titel "Abschied in der Nacht". Die Scham über dieses sinnlose Massaker scheint in den Deutschen, die darüber Bescheid wissen, noch immer tief zu sitzen. Falls es interessiert, hier ist der Film auf youtube zu sehen (unter dem Titel "The Old Gun") aber in deutscher Synchronisation: https://www.youtube.com/watch?v=Se-plldXrcM LG Ilka |
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#4 |
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da ist mir doch tatsächlich ein "u" zuviel hineingerutscht.
Lieber Anaxi, liebe Ilka, vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Der ältere Bruder meiner verstorbenen Mutter fiel am 16. Juni 1944 bei St. Lo in der Normandie, nachdem er vorher einige Monate in der Nähe von Bordeaux stationiert war und nach der Invasion der Alliierten in Windeseile nach Norden verlegt wurde. Im Internet ist es heute möglich, den Weg verblüffend akribisch nachzuverfolgen, bei dem Oradour wie von Ilka erwähnt auf der Strecke lag, was zumindest Anlass zu Spekulationen gibt. Die Feldpostbriefe meines Onkels habe ich sozusagen geerbt und bewahre sie weiterhin in ein paar verstaubten Zigarrenkisten auf. Der Satz über Bordeaux ist der einzige, der darin ungefähr so vorkommt, alles andere ist "dichterische Freiheit", die mir aber nicht leichtfällt. Was das Ganze mit unserer Gegenwart zu tun hat - hm? Noch was zum Reimschema: Das ist, wie so häufig bei mir, an Stephane Mallarmé orientiert - ich hab da ziemlich einen an der Waffel, aber es ist für mich die beste Möglichkeit, meine verwundenen Gedanken einer Ordnung und Struktur zu unterwerfen. Einen schönen Abend wünscht euch Epilog |
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#5 | |
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Forumsleitung
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Ich hab's rausgenommen, jetzt steht es richtig da.
Zitat:
[QUOTE]Nichts. Geschichte wiederholt sich nicht. Viele Menschen wiederholen Fehler, weil sich sich nicht gewahr sind, wie oft diese Fehler schon gemacht wurden. Sie lernen aus diesen Fehlern, immer wieder. Aber das hat nichts mit dem Fortlauf der Geschichte zu tun. Viele alte Fehler werden nicht mehr gemacht, dafür aber neue. Das ist völlig normal. |
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#6 | |||
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Zitat:
Zitat:
Deine Zeilen finde ich super umgesetzt, ich konnte es vorhin noch nicht richtig in Worte bringen, aber was ich interessant finde und mir sehr positiv aufgefallen ist, in deinen Worten liegt eine Schwere, ohne dabei schwer zu sein, sie sind sogar mehr leicht, fast schwebend und ohne den Teil feldpost im Titel, hätte ich ,wenn überhaupt, erraten können, dass es um Krieg geht Eine sehr schöne Be/Verrarbeitung von etwas, das sich kaum einfach wegschieben lässt, mich zumindest sehr beschäftigen würde Zitat:
![]() Stephane Mallarmé sagt mir zwar noch nichts, aber ich kann es gut nachvollziehen - und habe eine ähnliche Erfahrung gemacht, in einigen Spielereien mit der teils sehr strikten Struktur, bin ich ehrlicher mit mir gewesen als irgendwo sonst, habe Wunden offengelegt, die ich so erst kennengelernt habe und meine eigene verwundete Seele ein wenig aus ihrem Panzer holen ![]() Liebe Grüße und einen schönen Morgen euch beiden ![]() Delf |
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#7 |
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Dabei seit: 02/2021
Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
Alter: 62
Beiträge: 2.124
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... ja, auch mich machte die Feldpost neugierig.
Das letzte Wort stach mir voll ins Herz. Das LI findet Feldpost seines Ahnen und muss feststellen, dass dieser höchstwahrscheinlich an Kriegsverbrechen beteiligt war. Das schmerzt. Übrigens, Oradour ist aufgeklärt, Butcha noch lange nicht. wsT dT |
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#8 | |
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Zitat:
Übrigens habe ich da auch irgendwo gelesen, dass sehr viele der beteiligten "einfachen" Soldaten in den Tagen darauf an den Stränden der Normandie gefallen sind. Von den verantwortlichen "höheren Rängen" hat man später die meisten eindeutig identifizieren können (siehe Deine Anmerkung oben) - inwieweit sie tatsächlich "zur Verantwortung gezogen" wurde, ist mir nicht bekannt (müsste ich mal detaillierter nachrecherchieren - ich fürchte Schlimmes ...). @ Anaxi/Delf: Vielen Dank für Deine freundliche Kommentierung. Man kann sich übrigens auch die Ruinen von Oradour selbst als Mahnmal anschauen. Als ich vor 15 Jahren mal im Limousin war, habe ich das aber aus irgendwelchen Gründen nicht geschafft. Vielen Dank und einen schönen Tag Epilog |
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Der von Ilka oben angesprochene Film ist heute (22.09.) um 20:15 Uhr auch auf arte im TV zu sehen.
Grüße, Epilog |
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#10 |
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Forumsleitung
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Sehr aufmerksam von dir, Epilog.
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#11 |
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Ja, war ja sogar ziemlich "actiongeladen" - und kam mir deshalb auch teilweise eher wie ein Rachethriller à la Charles Bronson vor. Dafür erschien mir ein Schauspieler wie Philippe Noiret ziemlich "verheizt". Und dem Massaker von Oradour mit Hunderten toten Zivilisten wird die Darstellung schon mal gar nicht gerecht (wurde ja im Film auch nicht erwähnt) - obwohl wird letztendlich nicht wirklich wissen, was dort en detail passiert ist.
Beste Grüße Epilog |
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#12 | ||
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#13 | |
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Forumsleitung
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Zitat:
Ich bestellte den Film bei Amazon und ließ ein Exemplar an Thing schicken. Die Rolle, die Romy Schneider darin spielte, hatte ihr aber nicht gefallen. "Die hat mir zu viel gelacht", war ihr Fazit. |
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#14 |
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Ich fand gerade den Kontrast gut herausgearbeitet in der Rolle, die Romy Schneider verkörperte: Die Szenen, die vor dem Massaker spielen und eine hübsche, lebenslustige junge Frau zeigen. Warum sollte sie da nicht viel gelacht haben? Sie wusste ja nicht, was kommt. Und als ihr Mann, bevor er sie fragt, ob sie ihn heiraten will, vom Krieg redet, sagt sie: „Was hab ich damit zu tun?" Besser konnte man es meiner Meinung nach gar nicht zeigen - was ein Krieg anrichten kann und dass es völlig Unbeteiligte treffen kann.
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#15 |
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Forumsleitung
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Das ist eben Meinung, Silbermöwe. In puncto Kinofilm hatte Thing ihren eigenen Geschmack. Sie mochte z.B. ein Meisterwerk wie "Spiel mir das Lied vom Tod" überhaupt nicht, betete aber die BB wie eine Göttin an, die in meinen Augen (ich habe ihre Biografie gelesen) ein total unmoralischer, gefühlloser und ichbezogener Mensch ist. Dann lieber die Romy, die einmal in einem Interview gesagt hat: "Im Film kann ich alles, im Leben nichts."
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#16 |
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Entschuldigung, wenn ich mich wieder mal selbst kommentiere, aber dieser Beitrag wird ja doch vergleichsweise oft abgerufen und wurde auch verschiedentlich sehr kenntnisreich bzw. mit großem Interesse kommentiert. Das freut mich sehr, noch einmal vielen Dank dafür. Dieser Umstand führt zudem dazu, dass ich mir das Gedicht selbst regelmäßig wieder durchlese, wobei ich immer wieder Möglichkeiten einer - ich nenne es mal ziemlich eingebildet - "Vervollkommnung" entdecke (das ist bei vielen meiner Beiträge so, denn im Prinzip ist alles als "work in progress" zu verstehen - aber ich möchte mich durch ständiges erneutes Durchkauen nicht unbeliebt machen).
Im "Feldpost-Sonett" sind es einige rein sprachlich-stilistische Dinge, die ja auch in einem Literaturforum an erster Stelle stehen sollten. In der bisherigen Version verfügen insbesondere die Zeilen 1, 3 und 5 über mehrfach deutbare Versanfänge - ich ahn, mit links, nicht weine - gegebenenfalls kann man auch den letzten Vers ("dort steht cognac") hinzuzählen, denn das ist ja nicht nur eine reine Ortsbezeichnung. Nun ist mir aufgefallen, dass man diese mehrdeutige Sprachspielerei auch in der Zeile 8 aufgreifen könnte, und zwar im Sinne von "beim nachfahrn mancher längst verwehten spur" (die Verteilung der betonten Silben würde sich auch ändern, daher im Sinne des Metrums die Modifikation des ganzen Verses). "Das Nachfahrn" durch "den Nachfahrn" fände ich schon ziemlich stark, es würden sich dadurch jedoch neue Probleme ergeben (für mich zumindest): "fahrn" bzw. "fahren" kommt im weiteren Verlauf auch noch in Zeile 10 und 13 vor - schon diese Doppelung hatte mich bisher bereits gestört. Ein drittes "(...)fahrn" wäre eindeutig zuviel. Ich habe mir deshalb gedacht, das Wort in Zeile 13 durch "abbiegen" zu ersetzen, was allerdings weitere kleinere Anpassungen erfordern würde. Das "Fahrn" in Zeile 10 wollte ich ebenfalls ändern und am liebsten durch eine Fahrzeugbezeichnung ersetzen. Im "Tank" war hier meine erste Idee, aber sie kam mir unpassend vor, weil damit m.E. die ersten britischen Panzer aus dem ersten Weltkrieg bezeichnet wurden, der Begriff in Deutschland (vor allem in WK II) aber kaum geläufig war (oder täusche ich mich?). Ich habe deshalb im www nach einsilbigen Namen deutscher Panzerfahrzeuge gesucht, und fand (gewissermaßen als einzige Möglichkeit) den "Luchs". Um auf den Punkt zu kommen, die entsprechend angepasste Version meines Gedichts würde wie folgt aussehen feldpost. nouvelle-aquitaine ich ahn, wohin der mutter bruder fuhr heut lässt sich leichthin über seiten surfen mit links ein blick auf weitere winkel werfen bis sich entschleiert eines wegs kontur nicht weine, schlösser, fernen meers azur ernüchterung lässt mich in tieferem schürfen als wollten mich vergessene geister nerven beim nachfahrn mancher längst verwehten spur bordeaux, die stadt am meer, ist frankreich pur schrieb er im "luchs", und dass sie münzen würfen um austern oder anderes salz zu schlürfen da stößt sein kumpel ihn und jammert nur dass sie erneut nicht links abbiegen dürfen dort steht cognac. rechts geht`s nach oradour Wenn das jemanden interessiert, freue ich mich über Einschätzungen dieser Änderungen. Ist eigentlich ein Thema für die "Lyrik-Werkstatt", aber wir sollen ja nicht zweimal "dasselbe" Werk in unterschiedliche Fäden stellen. Danke und viele Grüße Epilog |
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Forumsleitung
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Die Fassung liest sich geschmeidig und hat sprachlich hohes Niveau, Epilog. Bei der letzten Strophe wäre zu überlegen, ob sie sich mit dem Konjunktiv noch eleganter läse:
da stößt sein kumpel ihn und jammert nur dass sie erneut nicht links abbiegen dürfen dort stehe cognac. rechts gehe es nach oradour (optional: rechts liege oradour) Finde ich gut, dass du deine Texte weiterpflegst. Da stellst sich die - vielleicht philsophische - Frage, ob das Gedicht mehr an dir arbeitet als du an ihm. Liebe Grüße Ilka |
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vielen Dank.
Zitat:
Die Konjunktiv-Version erscheint mir ehrlich gesagt nicht eleganter, obwohl sie möglicherweise logischer wäre. Die geänderte Anzahl und Betonung der Silben würde ausgerechnet den abschließenden Vers zu sperrig machen (meines Erachtens). In der ursprünglichen Version endet der Feldpostbrief also an dieser Stelle bereits wieder, und ein "allwissender Erzähler" stellt die beiden Fahrtrichtungen zur Auswahl (der natürlich, wie man sich denken kann, tatsächlich am allerwenigsten weiß). Liebe Grüße Epilog |
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#19 | |
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Forumsleitung
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Zitat:
Aber gut. Wie gesagt: Der Konjunktiv ist am Aussterben. Schriebe ich, dann schriebe ich meine Texte mit Konjunktiv, wo immer ich ihn für richtig hielte. Und ich verwende ihn auch in der täglich gesprochenen Sprache. Einfach ist der Umgang mit ihm nicht, das gebe ich zu. Ich schau oft in den Konjugationstabellen nach, ob ich ihn richtig anwende. Es war sowieso nur ein Vorschlag. Oder sagen wir: das Augenmerk auf eine aussterbende Spezies. LG Ilka |
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Hallo Epilog,
habe erst jetzt Deine "Feldpost" entdeckt. Ein hervorragender Einfall, muss ich sagen. Die letzte Fassung finde ich gelungener, insbesondere die vorletzte Zeile ist sprachlich sehr viel präziser. Du hast wirklich intensiv am Text gearbeitet, Hut ab! Das Metrum sollte man schon beibehalten, ein paar Silben mehr und das Produkt ist im Eimer, meine ich. Ich habe vor ein paar Wochen in Hirschberg (polnisch: Jelenia Gora) auf dem Trödelmarkt ein paar Feldpostbriefe gekauft, lese hin und wieder darin. Keine große Literatur, dafür aber ein gutes Zeit- und Stimmungsbild. Geschichte wiederhole sich nicht, sagen viele. Ich sehe das anders, gerade nach der Lektüre der Briefe. Schönen Abend wünscht Ottilie |
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