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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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13.01.2012, 17:23 | #1 |
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Dement
Dement
Zuerst hatte ich nur meine Schlüssel vergessen. Und für Telefonnummern hatte ich noch nie ein gutes Gedächtnis. An die Gesichter meines Vaters und meiner Mutter, die vor vielen Jahren verstorben sind, erinnerte ich mich, und das beruhigte mich. Die erste Verzweiflung, die man später nicht mehr wahrnimmt, überkam mich, als ich zu Hause anrief und gestand, dass ich nicht wüsste, wo ich meinen Wagen geparkt hatte. „Aber Schatz, der steht doch in der Garage. Du bist doch mit dem Bus in die Stadt. Wo bist du? Ich hole dich ab.“ Und an dieser Ängstlichkeit und Fürsorge entzündete sich meine Angst. In den Quizsendungen im Fernsehen wusste ich meistens die Antwort, aber als ich am Tag darauf die Zeitung holte, vergaß ich mir die Schuhe zuzubinden. Meine Frau kam immer mit zum Arzt. Sie hat nicht geweint, sie hat mir die Hand gedrückt. Vor einem Jahr habe ich das letzte Mal für sie gekocht. Seitdem ist meine Welt so klein geworden… Ich registrierte, dass meine Kinder mit mir sprachen, so wie ich mit ihnen sprach, als sie noch Kinder waren, während ich darüber nachdachte, wie sie hießen. Nun sind meine Gedanken ein eigenes Universum. Ich konnte noch schreiben, als ich mich nicht mehr anzuziehen wusste. Und ich erfand Wörter, deren Bedeutung ich nicht kannte. Manchmal sah ich meine Frau lächeln, und manchmal sah ich sie weinen, aber ich wusste nicht warum. In einem Traum weiß man manchmal, dass man träumt. So geht es mir in meiner Welt. Manchmal weiß ich, wer ich bin. Ein paar Sekunden nur. Dann will ich losrennen und ihr sagen, dass alles gut ist, und sie nicht mehr weinen muss. Und dann schaut sie mich fragend an und streicht mir übers Haar. Durch den Nebel hindurch sage ich: „Blau! Deine Augen sind blau. Blau, glaube ich.“ Und sie nimmt mich in den Arm, und ich will jetzt essen. Die Liebe ist mir nicht mehr bewusst, ich will nur noch erkennen. Und der Schatten an der Hauswand, an der ich vorbeilaufe, ist länger da als meine Erinnerung. Und ich weiß nicht, ob ich den Menschen liebe, der mich begleitet. Jeronimo |
13.01.2012, 17:55 | #2 |
///Beklemmend\\\
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13.01.2012, 19:54 | #3 |
Unheimlich traurig und unheimlich schön!
Dabei auf seine ganz eigene Art romantisch. Würde man selber das gleiche tun? Wäre die eigene Liebe so stark die Krankheit zu überstehen? |
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13.01.2012, 21:00 | #4 |
Forumsleitung
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Mal abgesehen davon, daß ein schwer Demenzkranker so nicht mehr schreiben könnte, sondern es hätte jemandem erzählen müssen, der es für ihn aufschreibt, ist die Geschichte gut erzählt. Der letzte Satz geht unter die Haut.
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14.01.2012, 00:14 | #5 | |
gesperrt
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Zitat:
das ist zweifellos richtig, weil ich mal wieder die Ich-Form gewählt habe. Und Danke für Deinen Kommentar! Hallo marlenja und orator 18, auch an Euch ein Dankeschön, dass Ihr geantwortet habt! Jeronimo |
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