Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 30.04.2022, 19:01   #1
männlich Blindschleicher
 
Benutzerbild von Blindschleicher
 
Dabei seit: 12/2021
Ort: Planet Erde
Beiträge: 68


Standard Eine Dichtung muss her!

Der Wasserhahn tropft und tropft und tropft. Eine Dichtung muss her! Also rufe ich bei der Hotline an und ordere einen Dichter. Der ist natürlich bei der Dichterinnung. Gut so! Man will ja eine Qualitätsdichtung haben und im Land der Dichter und Denker sollte schon jeder, der ein Gewerbe anmeldet ein Zertifikat haben. Bis man aber einen richtig guten Dichter ins Haus bekommt kann es schon eine Weile dauern. Qualifizierte Dichter haben viel zu tun und man muss sich geduldig auf erhebliche Wartezeiten einstellen. Ich lege den Termin zwischen meine Ehescheidung und der längst überfälligen Herzoperation und warte geduldig auf einen Dichter. Viele Eimer, Flaschen und Kanister fülle ich in der Zwischenzeit mit dem Wasser, das aus meinem Wasserhahn tropft. Wäre alles nur halb so schlimm, wäre nicht auch noch der Abfluss verstopft. Aber darum wird sich eine andere Handwerkszunft kümmern müssen.

Der Dichter kommt! Hurra! Standesgemäß kommt er in einer Kutsche angefahren, gezogen von zwei mit Perwoll gewaschenen weißen Hengsten. Wieso er nicht in einem VW Bus kommt frage ich besser gar nicht erst. Das könnte zu einer hitzigen Diskussion führen, die ihn nur von der Arbeit abhält. Die Anfahrt von Berlin nach München wird mich ein Vermögen kosten. Aber hippe Dichter kommen nun mal aus Berlin. Dichtkunst ist eben auch eine Form von Kunst und die ist eben derzeit in Berlin ansässig. Auch bis der Dichter endlich in Fahrt kommt kann es noch eine Weile dauern. In seinem Lieblingssessel sitzend, fläzt er in Künstlerpose in meiner Küche und starrt gedankenverloren auf meinen tropfenden Wasserhahn. Den Lieblingssessel hat er sich von Zuhause mitgebracht. Einen Schreibblock und einen Bleistift muss ich ihm aus meinem Fundus zur Verfügung stellen. Offenbar können sich die armen Dichter heutzutage nicht mal mehr ihr eigenes Rüstzeug leisten! Der Dichter schnüffelt an meinem letzten Apfel, starrt auf den tropfenden Wasserhahn und kritzelt irgendwann mal, wie von einem Fieber gepackt, die ersten Sätze auf meinen Notizblock. Meine Nerven liegen blank, als er die Hälfte der hingerotzten Sätze wieder wegradiert.

Ich frage den Dichter, ob er einen Kaffee haben möchte, oder einen Scotch, oder Kokain oder ob ich ihm ein Date mit meiner zukünftigen Ex-Frau klarmachen soll. Aber der Dichter nimmt keines meiner freundlichen Angebote in Anspruch. Stattdessen schnüffelt er wieder an meinem Apfel und ich biete ihm an, einfach mal hinein zu beißen. Der Dichter sieht mich an, als hätte ich ihm seine handwerklichen Fähigkeiten abgesprochen oder ein unmoralisches Angebot unterbreitet oder ihn vorsätzlich mit der Beulenpest angesteckt. Aber womöglich habe ich ihn nur aus seiner Konzentration gerissen, ihn jeglicher Inspiration beraubt.

Ich lasse den Dichter fortan in Ruhe dichten. Ich ziehe mich zurück, studiere die Börsenkurse, lasse mich scheiden, unterziehe mich einer schweren Herzoperation und zettel beinahe den dritten Weltkrieg an, als eines meiner Hass-Postings gegen Dichter versehentlich einem prominenten Politiker untergeschoben wird, der nur geringfügige Namensähnlichkeit mit meiner Person aufweist.

Vorsichtig spitze ich in meine Küche hinein, in der sich der Dichter inzwischen wohnlich eingerichtet hat. Zwischen all seinem nachgelieferten Moblilliar und mehreren wild in der Küche verstreuter Äpfel, liegt der Dichter in Dichterpose und schreibt tatsächlich eine halbe Seite meines Notizblocks voll.

Endlich lässt er mich am Ergebnis seiner Dichtkunst teil haben!

Der Wasserhahn, er tropft und tropft.
Was haben wir so sehr gehofft,
dass es von selber aufhören möge.
Doch all die Hoffnung war nur Lüge.
Drum sehet, was der Dichter vermag
Als er dichtend in der Küche lag.
Die Dichtung ist vollbracht.
Na, wie haben wir das gut gemacht?

Der Dichter überreicht mir seine Dichtung und eine völlig überhöhte Handwerkerrechnung. Die listet aber wenigstens detailliert die diversen Posten auf, die teuer zu Buche schlagen. Da wäre die Anfahrt, die Rüst,- und Inspirationszeit, das anteilige Germanistikstudium, die Nachlieferung des Künstlermobilliars, mehrere Kilo frische Äpfel und natürlich die Dichtung selbst. Schüttelreim, Klopfreim, Quantenreim. Reime von denen ich noch nie etwas gehört habe werden mir verrechnet. Da ich von Dichtung keine Ahnung habe, bezahle ich murrend die Rechnung, wende aber ein, mir käme seine Dichtung etwas undicht vor.

Der Dichter genießt und schweigt. Er lässt seine Möbel abtransportieren, lässt mir aber immerhin die faulen Äpfel da. Ich koche mir daraus einen Apfelschnaps und betrinke mich. Der Wasserhahn tropft noch immer.

In der Abenddämmerung will ich das Licht einschalten. Kein Strom. Die Glühbirne kann noch nicht kaputt sein. Die habe ich erst vor zehn Jahren gekauft und auf der Verpackung steht irgendwas von wegen zwanzig Jahre Herstellergarantie. Ich bestelle einen Elektriker. Immerhin steht der schon wenig später vor der Tür. Mit Elektrogitarre und kompletter Blaskapelle. „Hallo, ich bin der Elektriker in der Band!“. So stellt sich mir der E-Gitarrist gut gelaunt vor. Mir ist sein preußisch kaiserlicher Schnurrbart irgendwie sympathisch und ich lasse ihn gewähren. Nachdem ich die Band ordentlich mit Apfelschnaps abgefüllt habe, spielt die Blaskapelle endlich eine schräge Polka. Nur den Gitarristen höre ich nicht. Denn ich habe ja keinen Strom, merke, dass es aber auch ohne geht, solange alle besoffen sind und die Polka spielt. Egal wie hoch diese Handwerkerrechnung ausfallen mag, ich komme voll auf meine Kosten. Die Blaskapelle spielt so laut, dass ich den tropfenden Wasserhahn gar nicht mehr hören kann.
Blindschleicher ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Eine Dichtung muss her!

Stichworte
handwerker, kunst, wahnsinn



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
von der wichtigkeit der dichtung fennigpfux Philosophisches und Nachdenkliches 2 05.12.2016 19:06
Im Unterholz der Dichtung Glasbleistift Philosophisches und Nachdenkliches 0 02.01.2011 04:24
Dichtung texttrainer Sonstiges Gedichte und Experimentelles 0 28.12.2008 18:57
Täuschende Dichtung St. Germain Sonstiges Gedichte und Experimentelles 0 19.05.2006 00:19


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.