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01.10.2009, 21:19 | #1 |
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Vermächtnis
Wenn Klara ihre Tochter zu Bett gebracht hatte, wenn sie sich versichert hatte, daß die Kleine fest schlief, pflegte sie das halbhohe Schränkchen im Wohnzimmer zu öffnen und zwei, drei Bücher herauszunehmen. Damit begab sie sich zu dem einzigen Sessel, den sie besaß, und knipste die Stehlampe an. Sie lümmelte sich in das Sofakissen und las bis spät in die Nacht hinein, bis die Vernunft ihr gebot, Schlafen zu gehen, um am nächsten Morgen einigermaßen ausgeruht ihre Arbeit an der Kasse im Supermarkt aufzunehmen. Jetzt aber war die Zeit, in eine ferne fremde Welt zu tauchen, weit weg von heute und morgen und allem danach.
Zeile für Zeile und Bild für Bild verschlang sie, was die Bücher über das Land ihrer Träume erzählten. Im Geiste ließ sie Landschaften vorüberziehen, Berge, himmelhoch und mit Schnee bedeckt, grüne Täler, tiefe Wälder und schnellende Flüsse. Sie durchwanderte die riesige Hauptstadt mit den Wolkenkratzern und Handelszentren, studierte Geschichte und Brauchtum dieses Volkes im fernen Osten, das die Europäer nie richtig verstehen lernten. Wenn sie doch nur eine Weile dort leben könnte, wünschte sich Klara, doch sie wußte, daß sich von ihrem schmalen Einkommen nicht einmal die Reisekosten abzwacken ließen - niemals, und wenn sie noch so lange lebte. So vergingen die Jahre. Die Tochter wuchs heran, verließ das Haus, und Klara wurde alt und grau. Sie starb so, wie sie es sich immer gewünscht hatte, schlief beim Lesen einfach ein, ließ ihr Buch in den Schoß sinken und wachte nie wieder auf. Nach Klaras Beerdigung löste die Tochter den Haushalt auf. Bei den bescheidenen Lebensverhältnissen der Mutter ließ sich diese Aufgabe ohne viel Umstände bewältigen. Rasch war der Großteil des Mobiliars aus der Wohnung geschafft und einige wenige Kisten mit Wäsche und Geschirr gepackt. Nur das kleine Schränkchen stand noch, weil die Tochter den Schlüssel nicht finden konnte und nicht wußte, was sich hinter den Türen verbarg. Schließlich fand sie ihn in einer alten Keramikvase, die sich dem Packen verweigert hatte. Sie schloß das Schränkchen auf und erblickte mit Erstaunen eine kleine Buddha-Statue aus Holz. Sie nahm sie heraus und betrachtete sie ratlos. Dann fischte sie nach dem übrigen Inhalt des Schränkchens und fand zahlreiche dicke und schmälere Bücher über Japan, darunter zwei Bildbände und einen Reiseführer mit einem Stadtplan von Tokio, ein Buch über die Geschichte, Sitten und Gebräuche der Japaner, eine Einführung in japanische Schriftzeichen, ein halbes Dutzend Landkarten und den alten, vergilbten Katalog eines Reiseveranstalters. Nachdem sich ihr Erstaunen gelegt hatte, setzte sie sich auf den Fußboden, nahm jedes Buch und jede Landkarte einzeln in die Hand, blätterte, las und betrachtete die Bilder. Dies war also die unbekannte Seite ihrer Mutter, die geheime Sehnsucht, von der die Tochter nie etwas geahnt hatte. Stunden vergingen. Es wurde Abend, und erst als die Straßenlampe vor dem Fenster aufleuchtete, erhob sie sich, holte einen leeren Karton und packte alles ein. Den Buddha setzte sie obenauf, nahm den Karton mit beiden Händen und trug ihn zu ihrem Auto. Sie hatte nicht weit zu fahren, aber die Zeit reichte, um gründlich nachzudenken und einen Entschluß zu fassen. Zu Hause schaltete sie den Computer ein, buchte im Internet einen Flug nach Tokio und schickte ihrem Arbeitgeber eine E-Mail mit der Bitte um Freistellung für wenigstens zwei Monate. In den nächsten Tagen würde es viel zu regeln geben, aber das dürfte zu schaffen sein. Dann ging sie in den Keller und sah nach den Koffern. 1. Oktober 2009 © by Ilka-M. |
03.10.2009, 02:57 | #2 |
Dabei seit: 07/2006
Ort: Mauritius, stella clavisque maris indici
Beiträge: 4.889
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Liebe Ilka-Maria,
heute ist wieder einer dieser Tage, wo ich nicht schlafen kann, wo ich grüble und denke, wo ich in Erinnerungen und Hoffnungen versinke. Und drohe darin unterzugehen. Und dann lese ich diesen Text von dir. Ich bekomme eine Gänsehaut und spüre, wie sich meine Haare aufrichten. So packt mich dieser Text. Ich bin ergriffen und beeindruckt, begeistert und gerührt - und auf einmal geht es mir wieder gut. So, wie wenn du morgens im Nebel eine Waldlichtung überquerst und plötzlich reisst die Sonne den Morgennebel auf und alles wird klar. Du schreibst wunderschöne Geschichten, die Menschen mehr als nur beeindrucken. Du schreibst Geschichten, die Menschen etwas geben. Danke. corey |
03.10.2009, 06:54 | #3 |
Forumsleitung
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Danke für's Lesen, Corazon.
LG Ilka-M. |
03.10.2009, 15:46 | #4 |
abgemeldet
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comment
Jaja -, die Gene.
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03.10.2009, 17:58 | #5 |
Forumsleitung
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Ganz falsch, Daktary: Anstoß und Einsicht.
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03.10.2009, 18:04 | #6 |
abgemeldet
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corr.
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