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17.11.2022, 18:04 | #1 |
Dabei seit: 01/2022
Beiträge: 27
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Nimmersatt und trotzdem glücklich
Unter den abertausenden von rosa Zuckerguss pappig triefenden Poesiealben- und Postkartensprüchen, gibt es einen, den ich einfach nicht aus den Kopf kriege, der sich festgeklebt hat.
“There’s nothing in a caterpillar that tells you it’s going to be a butterfly” Abgesehen davon, dass sich jeder Biologe bei diesem Statement nur kopfschüttelnd auf die Zunge beißen kann, frage ich mich: muss die Raupe denn zu einem Schmetterling werden? Ist es nicht genug, Raupe zu sein? Sind zwei bunte Flügel und eine lange Zunge alles, wofür es wert ist zu leben? Eine Raupe lag mir immer besonders am Herzen. Die kleine Raupe Nimmersatt war mein Lieblingsbilderbuch. Eigentlich ist es das immer noch. Wie in jedem meiner Lieblingsfilme und Bücher ignoriere ich konsequent das Ende – Star Wars gefiel mir zum Beispiel als Kind am besten, solange ich noch die Hoffnung hatte, dass das Imperium und sein konsequentes , postmodernes Design gewinnen. Heutzutage wäre ich enttäuscht dass Todessterne anscheinend von Berliner Flughafenarchitekten gebaut werden. Ohne das Ende ist die Story der Raupe Nimmersatt einfach toll: eine kulinarisch flexible Raupe genießt ihr Leben und isst sich durch alles, was die moderne Lebensmittelindustrie zu bieten hat, bis sie am Ende der Woche von zu viel Zucker und Geschmacksverstärker high wird. Klingt nach Weihnachtsferien. Mit dem eigentlichen Ende offenbaren sich ganz neue Deutungsmöglichkeiten: Eine vereinsamte Raupe substituiert soziale Beziehungen mit Essen, bis sie sich für einen mehrwöchige Sonnenfastenaushungerungskur in einem Kokon aus getrockneten Körpersekreten entscheidet, um dann am Ende als exzentrisch geschminktes Magermodel aus dem Lockdown zu entfliehen und sich nur noch von einem Tropfen Nektar pro Tag zu ernähren. Ich kann mich viel besser mit der ersten Version identifizieren. Ich ess mich lieber quer durch die Küche als ein Schmetterling zu sein, zumal Flügel auch echt unpraktisch sind um auf dem Sofa herumzulungern. Ich stelle mir die kleine Raupe Nimmersatt sehr glücklich vor, zumindest vor der Verpuppung. Sie ist nie mit Problemen außerhalb der Speisekammer konfrontiert. Die Raupe Nimmersatt muss nie zur Schule, zum Studium, zur Ausbildung gehen. Niemand erwartet von ihr ein Bücherwurm zu sein, sich durch tausende Seiten veralteten Wissens zu fressen um dann nach der Prüfungsphasenverpuppung wieder neu aufzuerstehen. Niemand hat von ihr erwartet, ein ganz neues Insekt zu werden, weil die Corporate Identity nunmal von Schmetterlingen geprägt ist und es der Kunde erwarte dass alle Mitarbeiter Flügel haben und emsig von Blüte zu Blüte fliegen und dabei auch noch verdammt gut aussehen, anstatt sich über Blätter herzumachen. Niemand erwartet von ihr, jeden noch so nervigen Mitarbeiter oder Vorgesetzten mit bezirzenden Flügelschlägen zu beruhigen und so zu tun, als würde man sie nicht am liebsten bespucken. Die kleine Raupe Nimmersatt muss nicht arbeiten. Ihre Träume liegen direkt vor ihr, sie muss sich nur durch die Schale des Apfels fressen. Sie kann bleiben wie sie ist. Warum würde sie sich je verändern wollen? Vielleicht ist die kleine Raupe Nimmersatt einsam. Vielleicht ist auch das der Grund, warum sie von Tag zu Tag die Gesellschaft von einer immer größeren Anzahl an Früchten sucht. Wenn ich auf die Jahre zurückblicke, die vergangen sind, seit ich die Biographie einer kulinarisch polygamen Raupe zum ersten Mal aufgeschlagen habe, so war es für mich immer der Wunsch, anderen zu gefallen, der mich am stärksten verändert hat. Vielleicht ist die kleine Raupe von Äpfeln zu Würsten umgeschwenkt, weil sich daran der „coolste“ Wurm im Garten gütlich tut – ähnlich wie ich in der Schule einst anfing Französisch zu lernen, nicht weil ich es mochte, sondern weil alle meine Freunde es auch taten, ich dazugehören wollte und fürchtete, den Anschluss zu verlieren. Vielleicht gibt es aber sogar einen noch viel gewichtigeren Einfluss, vielleicht ist die kleine Raupe Nimmersatt mit dem nichtganzsokleinen Schmetterling Nimmerruh zusammen und weiß, dass er nur glücklich sein kann, wenn er fliegt. Und deshalb will sie mit ihm fliegen und ihr liebstes und einziges Hobby, die gepflegte Völlerei dafür aufgeben – fast genau so, wie ich beschlossen hatte, nicht alles hinter mir zu lassen und alleine durch Ferne Länder zu streifen und modernem Nomadentum zu frönen, weil es einen Menschen gibt, der nicht in meinen Koffer gepasst hatte, aber ohne den das Gepäck unendlich schwer gewesen wäre. Für die kleine Raupe ist es einfacher als für mich war – neben einer Raumzeitsingularität als Magen hat sie eine weitere Superpower, die mir fehlt: sie kann sich verpuppen, wenn sie es möchte. Ich habe schon oft versucht mich zu verändern, habe mich, anstatt mich nach einer Fressorgie von einem Blatt herunterhängen zu lassen, ehrlich und ernsthaft bemüht, nicht immer so neunmalklug, nervig und arrogant zu sein, ein Mix aus Enzyklopädie und penetranter Autokorrektur, die man am liebsten in die Ecke werfen und mit Benzin übergießen würde. Aber ich habe nie Flügel bekommen, nie wurde ich die extrovertierte Charmebombe, mit der man sich lieber unterhalten würde als mit mir. Aber ich bin halt auch kein Schmetterling, sondern einfach nur ein sehr hungriger Wurm. |
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