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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 23.05.2010, 14:20   #1
Friedrich
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 237

Standard Die zweite Chance

Die zweite Chance


Meinem Sohn,
dem "Kleinen Prinzen".


Das Kinderkrankenhaus der Stadt,
es glich von fern mir in der Kindheit
dem düstren Tor zu Dantes Hölle:
„Laß, Fremder, der du eintrittst hier,
all deine Hoffnung fahren!“ *

Die Hand schon fest in der des Vaters,
vorm Haus griff sie stets fester noch,
und dann – der Blick glitt scheu hinauf,
und da – ganz oben – waren sie:
die scharlachkranken Kinder!

Sie lugten durch die Fensterscheiben,
so ernst und bleich und voller Sehnsucht,
die Freiheit und Geborgenheit,
für mich so fest in meiner Hand,
so weit für sie da drinnen.

Ausgesetzt im Krankenhaus,
preisgegeben fremden Mächten,
allein im Bett im Krankenzimmer –
Stille, – noch ist nichts zu hören –,
doch bald schon ... kommen sie ... .

Das Krankenhaus, ein Ort fernab
von kindlich frohem Lachen,
von heit'rem, selbstvergess'nem Spiel,
von fragloser Geborgenheit;
das Schicksal dort begegnet:

"Werd' ich auch wieder ganz gesund?"
Und nun bist du im Krankenhaus,
mein Sohn, und dein Gesicht, so bleich,
benommen noch von der Narkose,
ruht matt auf weißem Kissen.

Was wirst du wohl gesehen haben
auf deinem Weg zum Saal nach unten?
Dein Bett rollt durch den Korridor,
die Lampen wandern am Plafond,
im Fahrstuhl schließen Türen.

Und schon, die Türen gleiten auf,
es gleißt ein blendend grelles Licht,
Kanülen, Kabel, Instrumente,
die Nadel sticht und bald darauf
fällst du in tiefe Ohnmacht.

Aufmerksame Augen zwischen
Mundschutz und Hygienehaube
folgen einer scharfen Klinge;
tiefer Schnitt in weiße Haut;
Blut quillt rot hervor.

Praktiken der Medizin,
erinnern sie nicht vage doch
an Riten längst vergang'ner Zeiten?
Einst brachte man den hohen Göttern
Mensch und Tier zum Opfer.

An Stelle des Altares steht
ein Tisch in hellem Licht nunmehr,
und wie die Priester einst beim Opfer,
so tragen heut' im Saal die Ärzte
besondere Gewänder.

Die Griffe der Chirurgen sind
nicht rituell, nur sachgebunden,
doch ähnlich wie beim Ritual
kennt jeder in dem Team der Ärzte
die Handlungen im voraus.

Der Arzt dem Gott der Technik dient,
Erfahrungswissen bannt Gefahr
und stellt das Heile wieder her,
allein, nicht immer sind die Götter
dem Menschen wohlgesonnen.

Und abends vor dem Eingriff wird
mit liebevoller Hand den Kindern
ein weißes Hemdchen ausgebreitet,
und freundlicher als immer sonst
sind all die Krankenschwestern.

So leicht Dein Hemdchen, kleiner Prinz,
noch größer scheinen deine Augen,
und hilflos wie ein kleines Tier
ruht weich und weiß in meiner Hand
dein kleines schmales Händchen.

Wie zart, zerbrechlich und verwundbar
ist doch fürwahr der Mensch! Und wir ...
wir wähnten uns in Sicherheit
und glaubten, es sei selbstverständlich,
daß du am Leben bist.

Weiße Särge. Lilien.
Rubinrot glüht am Straßenrand
das Windlicht einsam aus dem Dunkel.
Niemals ganz verheilt die Wunde;
unendlich dieser Schmerz.

Gefahr, sie hat ihr Gutes auch,
sie läßt, was uns nur anvertraut
auf Zeit, das Kostbare, erscheinen;
sie rückt es uns'rem Herzen näher
und quält uns mit der Angst,

wir könnten es – schon bald – verlieren,
das Flämmchen könnte vor dem Windstoß
mit einem Mal erlöschen, und ...
so hilflos blieben wir zurück,
allein mit unsrer Liebe.

Die zweite Chance, ein göttliches
Geschenk, ein weitres Mal ist uns
das Kostbare geschenkt; und wir ...,
wir leben nie mehr so, als hätten
wir nichts zu verlieren.


*)"Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!"
Spruch am Eingang zur Hölle.
(Dante Alighieri, Divina Commedia, Inferno III, 9)
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