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Alt 20.10.2022, 13:01   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Beiträge: 31.103


Standard Murphy lacht

Es gibt Tage, die sind gebraucht, kaum dass sie angefangen haben.

Als ich auf den Wecker sehe, ist es fast acht. Gestellt hatte ich ihn auf sechs. Radio auf volle Lautstärke. Aber nach einem Regal voll Wein am Abend zuvor und Verabschiedung der Gäste um zwei Uhr früh haben selbst die schärfsten Ohren den Dienst quittiert. Sie sind schlicht fertig mit der Welt.

Die Beine verweigern ebenfalls die Arbeit und sind nur mit gutem Zureden bereit, mich wie auf Bootsplanken bei hohem Seegang ins Badezimmer zu tragen, wo mich ein unfreundlicher Spiegel erwartet. Meine Gesichtsfarbe ist ein Gemisch aus Grau und Grün, und die ohnehin wenig schmeichelhaften Falten haben sich um mindestens einen weiteren Millimeter ins Innere zurückgezogen.

Frühstück ist nicht mehr drin, wenn ich noch zu einer zivilen Zeit im Büro ankommen will. Katzenwäsche, rein in die Klamotten, Farbe ins Gesicht geschmissen, Haare geschüttelt, Handtasche geschnappt, und ab geht die Post.

Die S-Bahn hat, wie so oft, Verspätung. Skandalöse zehn Minuten bei einem Takt von fünfzehn Minuten. Am Ostbahnhof, einem Knotenpunkt, schmeißt man uns raus. Warten auf die nächste Bahn, die in fünf Minuten kommt. Dann läuft alles wieder nach Fahrplan.

Zwei Stationen weiter ist Schluss: Weichendefekt. Umstieg auf die Straßenbahn. Ich kenne mich nicht aus und laufe den anderen Fahrgästen hinterher. Die Tram fährt zum Hauptbahnhof, ich muss die U-Bahn in die City nehmen und dort nochmal umsteigen, um ins Westend zu kommen. An der Konstabler ist die Frankfurter Allgemeine mittlerweile ausverkauft, ebenso mein Lieblingsbrötchen mit Schinken, Käse, Gurken und Tomaten. Ich nehme eine kalte Pizza-Schnitte, die lecker aussieht, aber beschissen schmeckt.

Wie ein hechelnder Hund nach der Hasenjagd komme ich im Büro an. Der Boss hat schlechte Laune und bellt mich an, ich hätte wohl eine sehr individuelle Vorstellung von gleitender Arbeitszeit. Ich belle zurück, er könne sich jemanden anderen suchen, wenn ihm meine Anwesenheit nicht passe, er wiederum, ich solle von meinem hohen Ross runterkommen. Dann schmeißt er mir ein Manuskript auf den Tisch, das abzutippen ist, aber mit Schwung, er müsse damit in einer halben Stunde aus dem Haus.

Ich fahre den Computer hoch, doch der Bildschirm bleibt schwarz. Am Einschaltknopf liegt es nicht, und ein Restart hilft auch nicht. Von der IT ist kein Schwein erreichbar, was mich nicht wundert, weil die Abteilung permanent unterbesetzt ist.

Ich überlege, ob es nicht besser gewesen wäre, sich für diesen Tag krank zu melden. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr habe ich das Gefühl, tatsächlich krank zu sein. Ich grapsche nach meiner Handtasche, rausche zu meinem Boss ins Zimmer, der verärgert die Brauen hochzieht, und blaffe ihn an: "Leckt mich alle kreuzweise!" Ihm bleibt die Spucke weg, und ich knalle die Tür zu. Mal sehen, denke ich, ob ich morgen die Kündigung bekomme. Oder zumindest eine Abmahnung.

An der Konstabler fällt meine S-Bahn wieder aus, ich muss warten. Aber das juckt mich nicht mehr. Der Tag ist gegessen, und vielleicht der nächste auch.

20.10.2022
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Alt 20.10.2022, 15:03   #2
männlich Heinz
 
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Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Ja, so ist das, liebe Ilka-Maria: Es gibt Tage, an denen man schon mit dem falschen Fuß aus dem Bett steigt, beim Eingießen des Morgenkaffees die Tischdecke versaut wird, das Fensterbrett im Wohnzimmer überflutet ist, weil man am Abend vergaß das Fenster zu schließen und der Nieselregen das seinige tat. Was da noch alles passiert, hast du anschaulich aufgeschrieben und dann kommt dir auch noch so ein blöder Chef in die Quere, dem man einfach die Mahnung ins Büro hängen müsste.
"Besonders lernt die Weiber führen!
Es ist ihr ewig Weh und Ach,
so tausendfach,
aus einem Punkte zu kurieren."
Ein probates Mittel, das nicht für dich gelten soll.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.10.2022, 15:35   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.103


Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
"Besonders lernt die Weiber führen!
In den 50ern gab es dafür "Frauengold". Mit einer Verschlusskappe voll dieses Saftes wurden die Weiber aus ihrer Hysterie befreit, geschmeidig wie Sahne und sanft wie die Lämmer.
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Alt 20.10.2022, 21:42   #4
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


ja, an das Tonikum mit fast likörstarkem Alkoholgehalt, kann ich mich erinnern. Ich meine, es ist von eine der beiden SPD-Gesundheitsministerinnen verboten worden, weil da noch eine schädliche Substanz drin war.
Aber was hilft es? Alkohol gibts immer noch und in weit höheren Prozentanteilen. Trostspruch: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.
H.
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.11.2022, 17:21   #5
männlich Eziotar
 
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 36


Standard Solche Tage

Solche Tage kennt wohl jeder. Sehr lebhaft beschrieben. Ausgezeichnet!
Eziotar ist offline   Mit Zitat antworten
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