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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt.

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Alt 31.03.2011, 21:45   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Relation

Wir kümmern uns um Wanderkröten
und retten sie aus größten Nöten,
derweilen würgt im Pflegeheim
die Greisin schwer an zähem Schleim,
und niemand sorgt sich um ihr Siechen:
„Wenn’s nicht mehr geht, dann laßt sie kriechen."

Zu Ketten klinken wir die Händchen
und feiern uns als edle Menschen,
wir schürzen Lippen gegen Krieg
und fordern für den Frieden Sieg -
derweilen stirbt durch wildes Rasen
das nächste Kind auf deutschen Straßen.

Der Alltag macht uns keine Sorgen,
wir müssen sie woanders borgen,
am besten ist’s um uns bestellt,
wir retten gleich die ganze Welt,
denn es ist lang schon so gewesen:
Am deutschen Geist wird sie genesen.

31. März 2011
© Ilka-Maria
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Alt 31.03.2011, 22:05   #2
Ex-Odiumediae
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Zitat:
Der Alltag macht uns keine Sorgen,
wir müssen sie woanders borgen
Wie wahr!

Das Thema ist wirklich aktuell, denn ich glaube, noch nie haben sich die Menschen so sehr um Unwichtiges gekümmert, um die wichtigen Probleme leichter verdrängen zu können, als in der Gegenwart.
Ex-Odiumediae ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 31.03.2011, 22:24   #3
weiblich Ilka-Maria
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Also ist es angekommen? Ja, offensichtlich.

Es kotzt mich an, daß die Leute sich vor den Alltagsproblemen drücken, indem sie auf jeden Medien-Zug aufspringen, der sie weit weg bringt, nämlich genau dorthin, wo sie sowieso nichts ändern können. Das sind natürlich immer die schlimmsten Katrastrophengebiete, man braucht ja Kulisse,

Mit allem, was weit weg ist, kann man Eindruck schinden: Protest macht Spaß, ist unterhaltsam, solidarisiert und kostet nichts. Allerdings ändert sich dadurch nichts. Änderungen sind nämlich zähflüssig, weil sie erkämpft und duchgesetzt werden müssen - und sowas dauert.
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Alt 31.03.2011, 23:15   #4
Ex-Odiumediae
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Genau!

Am schlimmsten finde ich, dass die meisten Konsumenten besonders mit den Boulevardmedien eine Symbiose eingehen, indem sie sich freiwillig, eher willentlich, von den wahren Problemen ablenken lassen wollen und die Medien es ausnutzen, indem sie den Menschen immer dümmere Anlässe dazu geben.

Wen interessiert es, ob irgendein Z-Promi einen Pickel am Hintern hat? Die meisten Vögel, die in TV-Sendungen mitwirken, die dieses Unwort des Jahrtausends im Titel führen, sind noch nicht einmal an jemandem vorbei gelaufen, der prominent ist.

Vielmehr werden diese Anwärter auf Hirnschrittmacher erst dadurch berühmt, dass die Medien ihren Konsumenten erzählen, sie seien es bereits. Dummheit, Feigheit und Heuchelei siegen, denn immer wieder funktioniert es, immer wieder ist der Pickel des Z-Promis wichtiger als die Demenzkranke Oma, die eigenen Schulden oder die eigene Gesundheit. Immer wieder ist das Fehler Suchen an Leuten, die man nicht einmal kennt, schneller getan, als das Hinterfragen der eigenen Lebensweise.

Eben dieses Verhalten hast Du meiner Meinung nach wunderbar eingefangen.
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Alt 01.04.2011, 01:48   #5
männlich Crystaloser
 
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sowohl das Gedicht als auch die nachfolgenden Ausführungen mit Genuß gelesen. Bei euch Guys (and Girls) kann man echt lernen!
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Alt 01.04.2011, 09:19   #6
Thing
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Halli Hallo, Ilka-Maria -

traurig und bitter, aber wahr.
Ich sehe dabei aber auch eine gewisse Pauschalierung.


Thing
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Alt 01.04.2011, 17:22   #7
männlich Caliban
 
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Die Frage ist, was man wie ändern will.

Menschen werden älter und die wenigsten Altersgebrechen können ernstlich abgeschafftwerden. Das kindertötende Rasen findet nahezu ausschließlich in ohnehin tempobegrenzten Gebieten statt. Dass auch der Alltag und das Leben an sich ihre Opfer fordern, wird sich, unabhängig von Gesellschaft und Staat, nicht ändern. Platt gesagt, kann kein Gesetz der Welt dem herabfallenden Dachziegel das Treffen des Passanten verbieten. Mitgefühl wird auch auf dieser kleinen Ebene gezeigt, meist aber eben auch auf der kleinen Ebene. Woran sich die Gemüter mehr erregen, das sind menschengemachte Probleme, denen der Mensch, die Gesellschaften und die Staaten tatsächlich etwas entgegenzusetzen haben. Davon können Brüderle und Mappus ein Liedchen trällern und auch der olle Gaddafi schlittert gerade über brüchiges Eis. Ganz so schlecht sind die Menschen nicht und gegenüber ihresgleichen auch nicht hilflos, wie weltbewegende (zumindest die Welt der Menschen bewegende) Ereignisse in der Historie mehrfach gezeigt haben.

Beispiele:
Eine den Gefahren der Kernkraft gegenüber einigermaßen aufgeschlossene Wählerschaft wählt eine Regierung, die den Ausstieg anordnet und straft bei nächster Gelegenheit eine ab, die zurückrudert.
Eine Landeshälfte hat genug von Diktatur und Teilung und setzt sich gegen etablierte globale Machtblöcke durch, die ihrerseits wenigstens teilweise an ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit erstickt sind.

Nur weil nicht alles eitel Sonnenschein ist, ist auch nicht alles scheiße. Und wäre alles eitel Sonnenschein, so würde man sich eben über Sonnenschein erbosen.
Caliban ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.04.2011, 17:59   #8
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Und wäre alles eitel Sonnenschein, so würde man sich eben über Sonnenschein erbosen.
Den Beweis dafür, lieber Caliban, wird wohl nie jemand erbringen können.

Aber Du greifst bei dem Thema einige Ebenen zu hoch. Wo sage ich denn in meinem Gedicht, daß es kein Alt- und Gebrechlichwerden geben darf? Oder daß man den Menschen das Autofahren verbieten sollte, was das sicherste Mittel wäre, daß niemand mehr überfahren wird? Wo sage ich, daß sich Katastrophen verhindern lassen müssen, wo doch jeder weiß, daß nicht alles im Leben vorhersehbar ist?

Es geht mir um etwas ganz anderes, deshalb ist der Titel des Gedichts „Relation“:

Wenn auf dieser Welt eine Katrastrophe ausbricht, dann geht sofort das Empörungs- und Betroffenheitsgeschrei bei uns los, da werden die Menschen aktiv, initiativ, idealistisch, pazifistisch – ganz einfach rundherum edel und gut. Wie schön – hatte Goethe ja auch einst eingefordert! Und in der Politik wird natürlich auch eifrig dem Betroffenheitswahn gefrönt und tief in die Staatskasse gegriffen, denn jeder will als Helfer am meisten imponieren.

Wegen dieser Katastrophen, die erfahrungsgemäß endlich sind (und dann verschwinden schlagartig auch die Gutmensch-Aktionen, und die politische Berichterstattung verstummt ebenfalls), übersehen wir die kleinen Katastrophen des täglichen Lebens. Wir beachten nicht länger die Probleme, die immer da sind, weil sie sich permanent erneuern („selbsterneuerbare Probleme“ – gefällt mir, wäre doch ein hübsches Modewort). Das muß so langweilig sein, daß wir auf jeden kreischenden Zug aufspringen, den uns die Welt schickt.

Wir haben genug Probleme im eigenen Land, die wir zu lösen haben, und davon ist das Einsammeln von Kröten noch das gerinste. Auch leisten wir genug und zahlen über Gebühr Steuern, so daß nicht einzusehen ist, daß wir alle Katastrophen dieser Welt bezahlen und künftig noch höhere Steuern zahlen müssen.

Es steht alles nicht in Relation zueinander, um es auf den Punkt zu bringen. Wir sind hier erstens in Deutschland, zweitens haben wir eine wirtschaftliche, politische und soziale Verantwortung gegenüber einem Großteil von Europa zu tragen. Irgendwo muß aber eine erreichbare Grenze sein, sonst graben wir uns selbst das Fundament ab. Und was unsere Kriegsschuld angeht: Die ist schon tausendfach zurückgezahlt.

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.04.2011, 23:39   #9
gummibaum
 
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Liebe Ilka,

ein Gedicht, das zu denken gibt. Dem Nächstliegenden Ignoranz, dem Fernen alle Aufmerksamkeit. Ich bin nicht für das Umgekehrte, nur, so geht es auch nicht. Ich denke, es ist viel eher möglich und daher viel erfolgsversprechender, das Nächstliegenede zu tun. Aber da muss man sich eben mal wirklich einlassen, in der Situation ausharren, muss die Mühen durchstehen, die kleinen Fortschritte werten und den großen Scheinfortschritten gegenüberstellen. Das strengt an - und es ist allemal leichter, die große Geste zu pflegen und sich von der weiten Welt feiern, abzocken und insgeheim belächeln zu lassen.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2011, 05:25   #10
weiblich Ilka-Maria
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So ist es, Gummibaum. Ich habe vor einigen Tagen einen Artikel über einen Mann gelesen, der seit mehr als 15 Jahren jeden Tag (!) seine Frau, die im Koma liegt, besucht und eine Stunde lang mit ihr spricht. Das mag extrem erscheinen, aber es hat mich doch tief beeindruckt, was Liebe bewirken kann in einer Spaßgesellschaft wie unserer, in der unbequeme Menschen oft abgeschoben werden.

LG
Ilka-M.
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Alt 08.04.2011, 16:37   #11
männlich Caliban
 
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Ilka, da widerspreche ich doch gar nicht.
Nur sage ich eben, dass das Ausmaß der Empörung durchaus in Relation zur Tragweite der Ereignisse steht. Wenigstens, wenn es sich um Ereignisse mit potentiellem oder realem Personenschaden handelt. Über das überfahrene Kind regen sich eben eine Handvoll Leute auf, über den (möglichen) Strahlentod von Hunderten und Tausenden regen sich eben Hunderte und Tausende auf. Die Endlichkeit dieser Erregung ist mehr oder minder gleich gelagert, wiewohl ich behaubte "Kobe" können mehr Leute zuordnen als "Carla". Die Relation bleibt also auch durchaus gewahrt.

In die Kriegsschuld hättest Du Dich nicht hineineifern brauchen, da sind wir eines Herzens.
Aber es ist doch falsch, dass wir immer und überall Geld hinschicken, wo's grad brennt. Geld schicken wir nur, um zu verhindern, dass uns mehr davon verlorengeht. Japan ist Japan und Deutschland ist Deutschland, dazwischen 9000 km und zwei Weltmeere, die Formel geht in einer globalisierten Welt zwischen zwei Industriestaaten nicht mehr auf. Nach überwundener Wirtschaftskrise heißt es hier bei vielen großen Konzernen wieder "Kurzarbeit" und "Produktionsausfall". Das betrifft uns also ziemlich unmittelbar. Lybien übrigens ebenso. Und wo ist das deutsche Engagement für die Elfenbeinküste? Fehlanzeige. Insofern wird also sehr unmittelbar an "unseren eigenen" Problemen gearbeitet.

Aber ich gebe zu, zu den krötenwanderungen fällt mir nix ein, die waren aber auch nur einen Tag am Rande im Gespräch und sind wieder vorbei, die Überlebenden haben schon gepoppt und gelaicht, die Bestände sind sicher.
Caliban ist offline   Mit Zitat antworten
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