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Alt 24.11.2022, 19:07   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Beim Tierarzt

Kitty wusste, was ihr blühte, wenn ich den grünen Plastikkorb mit der weißen Gittertür aus der Kammer holte. Dann zischte sie davon, sprang auf die Sessellehne und von dort auf den zwei Meter hohen Wohnzimmerschrank. Sie von dort herunterzuholen war ein aussichtsloses Unterfangen, denn stieg ich vorne auf die Leiter, lief Kitty nach hinten, und stellte ich die Leiter hinten an den Schrank, war Kitty wieder vorne. Ziemlich blöd, wenn man einen Termin beim Tierarzt hatte und nicht zu spät kommen wollte.

Zweimal ließ ich mich foppen, dann hatte ich kapiert, dass man die Intelligenz einer zwei Jahre alten Katze nicht unterschätzen darf. Also setzte ich auf Hinterlist, nahm sie auf den Arm, streichelte sie liebevoll und knuddelte sie ordentlich durch, wobei ich sie ins Badezimmer trug. Das war zunächst unverdächtig, weil im Bad die Fress- und Trinknäpfchen und praktischerweise auch das Katzenklo standen. Misstrauisch wurde Kitty erst, als ich die Tür schloss. Jetzt musste es hurtig gehen, denn Kitty beherrschte die Technik, jede normale Zimmertür durch einen Sprung auf die Klinke zu öffnen.

Sie hatte keine Chance, mir zu entkommen. Aber es kostete mich Anstrengung, sie in das Körbchen zu zwängen, weil ich sie mit einer Hand am Hinterteil schieben musste und deshalb nur eine Hand freihatte, um abwechselnd eins ihrer weitgespreizten Vorderbeine samt aufgeplusterter Pfoten und ausgefahrener Krallen nach innen zu drücken, so dass ihr Körper durch die Öffnung passte. Und dann hieß es, schnell die Gittertür zu schließen, denn Katzen haben die Geschmeidigkeit, wenn man sie hinten drin hat, vorne wieder rauszukommen – sie sind sozusagen biologische Klappmesser.

Wenn das geschafft war, konnte die Reise losgehen. Im Auto auf dem Vordersitz war Kitty nicht mehr und nicht weniger als ein unglückliches schwarzes Knäuel, das keinen Mucks von sich gab, mir hundertprozentig böse war und mir sämtliche Variationen einer imaginären Katzenpest an den Hals wünschte.

Beim Tierarzt warteten bereits fünf Kandidaten, aufgerufen zu werden. Eine Frau hatte zwei Windhunde an der Leine, wahre Prachtexemplare: Lange, schlanke Beine, massiver Brustkorb, schmales, aber kräftiges Gesäß und dazwischen so gut wie nichts. Über ihren Aufenthaltsort waren sie nicht sonderlich amüsiert und versuchten, unter dem sehr weiten Rock ihrer Halterin Schutz zu suchen - vergeblich, denn sie waren zu groß, so dass immer irgendwas irgendwo rausguckte. Ihnen gegenüber saß ein Rottweiler, der den beiden Psychopathen aufmerksam zusah, sehr brav und offensichtlich gut erzogen. Auf seinem Halsband war in großen Buchstaben "F.B.I." eingraviert, was ich angemessen fand, aber es hätte mich auch nicht gewundert, wenn "Herkules" draufgestanden hätte.

Die Tür ging auf, und eine Frau mit einem Spitz kam herein, ein ungewöhnlicher Anblick, denn diese Hunderasse war in den 50ern modern und auf der Beliebtheitsskala ausgestorben. Die Frau war mindestens dreißig Sekunden früher am Empfangstresen als der Spitz, der schon an der Tür die Vorderpfoten ausgefahren hatte und verzweifelt versuchte, sich aus seinem Halsband zu befreien und zu türmen. Ich bin nie dahintergekommen, weshalb die Tiere – vornehmlich die tapferen, sich heißer bellenden Wadenbeißer -, vor einem Arzt, der die Sanftmut in Person ist und keiner Fliege einen Flügel ausreißen würde, Schiss hat und den Schwanz einzieht. Ist aber so.

Die Frau mit dem Spitz kam vor Kitty dran – die Praxis hatte mehrere Ärzte mit eigenen Terminen -, und als sie am Tresen die Rechnung bezahlte, hatte ihr Spitz nur die Tür im Auge und zog wie bekloppt an der Leine, bis er nur noch einen Fingerhut voll Luft bekam und ihm die Zunge aus dem Maul hing. "Raus, raus, raus!", schien er zu hecheln, und als es endlich soweit war, wäre seine Herrin hinter dieser Zugmaschine beinahe die drei Treppenstufen zum Hof runtergestürzt.

Kitty und ich mussten länger warten als sonst, denn es kam ein Notfall herein: Ein Mann trug seinen Hund, einem Terrier der großen Art, auf den Armen, der an einem Bein so verletzt war, dass er nicht mehr auftreten konnte. Es war auf einer Wiese passiert, erzählte der Mann. Sie waren am Spielen "Fang den Ball!" gewesen, und dabei war der Hund in einen scharfen Gegenstand aus Metall getreten, den jemand achtlos weggeworfen hatte.

Mittlerweile waren im Wartezimmer ein Kater und ein Kaninchen dazugekommen. Der Kater miaute kein bisschen wie Tom-Cat, sondern eher wie Pussycat, womit er enorm an Würde einbüßte und sich die Lektion hinter die spitzen Ohren schreiben musste, dass in einer neuen Umgebung die Karten neu gemischt werden. Dem Mümmel war es egal, oder auch nicht, denn bei Kaninchen ist die Nase immer in Bewegung. Was sie aufregt oder nicht interessiert, bleibt ihr Geheimnis.

Endlich waren wir dran. Ich stellte das Körbchen auf den Untersuchungstisch und zerrte Kitty aus den hintersten Refugien dieses Stalles heraus, denn urplötzlich hatte sie beschlossen, dass dort ihre angestammte Heimat war und niemand das Recht hatte, sie zu einer Auswanderung zu nötigen.

Also gut. Ich hatte sie raus, und da schien sich ihrer eine seltsame Ambivalenz zu bemächtigen: Sie klemmte sich den Schwanz durch die Hinterbeine bis an den Bauch, was eindeutig in "Schiss" zu übersetzen war, andererseits stellte sie ihre Barthaare dermaßen energetisch auf, dass sie fast nach vorne zeigten. Die Neugier war stärker als die Angst.

Und sie ließ alles mit sich machen: Zahnstein entfernen, Spritze geben, Gewichtskontrolle, Felluntersuchung … das ganze Programm. Ohne einen Mucks.

Kein Problem, sie nach der Prozedur in ihr Körbchen zu bekommen, das war ja mittlerweile ihre erklärte Heimat. Sie war schneller drin, als die Arzthelferin sie losgelassen hatte.

Wieder zu Hause und in die Freiheit entlassen war ich darauf gefasst gewesen, dass mich Kitty mindestens drei Tage lang mit dem Hintern nicht ansehen würde, aber da hatte ich weit gefehlt. Kaum aus dem Körbchen, war alles vergessen. Sie war so verschmust wie eh und je, setzte sich auf meinen Schoß und schnurrte behaglich vor sich hin.

24.11.2022
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