Kapern, Zimmermänner und Gott in Frankreich

[Ilka-Maria]

Hackfleischsoße mit Kapern, süß-sauer. Zweimal im Monat gab es sie zu Kochbeutel-Reis und Kopfsalat oder zu Gemüse der Saison: Rosenkohl, Erbsen oder Bohnen. Konrad, mein älterer Bruder, rümpfte die Nase. "Schon wieder dieser Schweinefraß. Lieber lecke ich den Staub von den Schränken."

Mutter hob die Schultern und schob Konrad einen Teller hin, auf dem eine Stulle mit Griebenschmalz, ein dickes Stück Salami und eine Ecke Camembert lag. "Dein Vater liebt Kapernsoße, also bekommt er sie. Und Dickerchen mag sie auch."

Dickerchen war ich, die kleine Schwester. Wer über meine Fresslust und darüber, dass ich für mein Alter ein paar Kilo zu viel wog, hinwegsah, nannte mich respektvoll Ulla, Kurzform für meinen richtigen Namen, Ulrike.

Nein, ich mochte die Kapernsoße nicht. Aber aus anderen Gründen als mein Bruder Konrad. Diese Klümpchen in der Soße erinnerten mich nämlich an die weichen Körper der Zimmermänner, in anderen Regionen des Landes auch Weberknechte genannt, die in der Toilettenkabine im Zwischengeschoss des Hauses, in dem wir wohnten, an den Wänden und Decken hingen. Kleine, runde, nackte und wehrlose Körper mit eklig langen Beinen, die ich immer, solange ich auf der Toilette saß, im Blick behielt, angstvoll, dass mir bloß keiner dieser Handwerker auf mein behaartes Dach fällt. Das einzige, was diese erbsengroße Weichlinge von den Kapern in der Soße unterschied, was das Fehlen der olivgrünen Farbe.

Meiner Phantasie tat die fehlende Farbe keinen Abbruch. Wenn mir die Hackfleischsoße mit Kapern vorgesetzt wurde, sah ich auf einen Teller voller Zimmermannsleichen. Aber da ich erzogen war, das zu essen, was auf den Tisch kam, löffelte ich den Teller brav leer. Mutter war so weise, Essig und Zucker auf den Tisch zu stellen, woran ich mich fleißig bediente. Mit mir konnte sie das machen, mit Konrad nicht. Der hatte, als er noch klein war, beim ersten Mal die Kapernsoße auf seinen Teller zurückgespuckt.

"Ulla, du bist ein liebes Mädchen", lobte mich meine Mutter und strich mir über den Kopf. "Du spürst was dir guttut."

Richtig gespürt habe ich das nicht, denn in der Schule hatte es geheißen, jedes Lebewesen habe ein Recht auf Leben. Deshalb fragte ich, misstrauisch geworden: "Mama, wo kommen die Kapern her?"

Sie zog die Brauen hoch. "Keine Ahnung. Ich kaufe sie im Supermarkt."

Jahre später zogen wir in eine Neubauwohnung. Wir hatten erstmals ein Badezimmer. Mit Toilette. In der eigenen Wohnung und nur für uns allein. Was ich aus meiner Kindheit kannte, kam nicht mehr auf den Tisch: Lunge, Niere, Leber, Herz … das gehörte nicht mehr auf den Speiseplan, sondern warf man seinen Hunden und Katzen vor.

"Mama, wieso gibt es in der Toilette keine Zimmermänner mehr?"

Sie zog die Schultern hoch. "Woher soll ich das wissen?"

Mittlerweile bin ich, Ulrike Baumann, verheiratete Meunier, eine Biologin und Expertin für Spinnen. Wie unschwer an meinem Nachnamen zu erkennen sein dürfte, ist mein Ehemann Franzose. Er stamm also aus dem Land, in dem sich Gott gerne zu Tisch setzt. Und er liebt Kapernsoße.

[Ralph Anson]

Es ist schon erstaunlich, wie viele verschiedene Namen es für ein und dieselbe Sache/Tiere/Gegenstände etc. gibt. Ich kenne die Kameraden als Kanker oder Opa Langbein.
Eine interessante Betrachtungsweise, in dieser kleinen Geschichter! Habe mir, durchaus ein Kapernfreund, die Sache mal bildlich vorgestellt...

[Ilka-Maria]

Zitat von Ralph Anson

. Ich kenne die Kameraden als Kanker oder Opa Langbein

Hochinteressant. Mit "Opa Langbein" kann ich etwas anfangen. Aber woher kommt der Begriff "Kanker"? Das habe ich noch nie gehört.

[Ralph Anson]

Hallo Ilka-Maria,
diesen Begriff kenne ich aus der Kinderzeit in meiner alten Heimat, heute Sachsen-Anhalt. Dort wurden die Weberknechte (Spinnen) so bezeichnet. Bei Wikipedia auch in der Aufzählung für Selbige enthalten.